Niemand muss auf jede Form des Genusses verzichten

Das Titelthema des Philosophie Magazins 02/2024 lautet: „Was brauche ich wirklich?“ Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler schreibt: „Die Sehnsucht nach einer minimalistischen Existenz, die ganz genau zwischen Notwendigem und Überflüssigem zu unterscheiden weiß, ist gerade am Beginn des neuen Jahres groß.“ Insbesondere angesichts des Klimawandels und seiner für die Menschheit schwerwiegenden Folgen ist klar: So, wie wir leben, kann es nicht weitergehen. „Was wir wirklich brauchen“ ist eine Frage der Bedürfnisse des Menschen. Unter einem Bedürfnis versteht man einen subjektiv empfundenen Mangelzustand. Auf den ersten Blick scheint die Sache relativ einfach. Die wichtigsten und damit wirklichen Bedürfnisse sind all jene, wie wir als Menschen notwendig zum Leben brauchen. Also Nahrung, eine Behausung und etwas Warmes zum Anziehen. Heißt das, dass man auf jede Form des Genusses verzichten muss? Das wäre zu kurz gedacht. Herbert Marcuse betont in „Triebstruktur und Gesellschaft“ die befreiende Kraft der Kunst und des Genusses.

Menschen wollen wachsen und ihre Fähigkeiten entfalten

Die Philosophen Rahel Jaeggi und Robert Pfaller führen ein Gespräch darüber, was man wirklich braucht. Für Rahel Jaeggi sind Bedürfnisse immer schon gesellschaftlich vermittelt. Ihrer Meinung nach gibt es kein einziges Bedürfnis, das nicht durchdrungen wäre von Gesellschaftlichkeit. Robert Pfaller erklärt: „Menschen haben ein Bedürfnis zu wachsen und sich zu entfalten und Fähigkeiten zu entwickeln. Aber im Moment passiert eine eigentümliche Pervertierung. Menschen werden dahin gelenkt, sich zu optimieren. Aber nicht zu wachsen.“

Als Klassiker präsentiert das Philosophie Magazin diesmal Jacob Böhme. Der Mystiker und Philosoph vertrat als Reaktion auf den Dreißigjährigen Krieg die Auffassung: Was wir brauchen, ist Gelassenheit. Wenn man sie recht versteht, befördert sie das Gute in der Welt. Die wahre Gelassenheit erweist sich dabei nicht als Rückzug in, sondern als Auszug aus der Innerlichkeit. Wer die Welt wirksam und zum Guten verändern will, so Jacob Böhme sinngemäß, der muss sich erst vom Joch der eigenen Verblendung befreien.

Verzweiflung ist eine Form von geistiger Faulheit

Der These einer polarisierten Gesellschaft steht der Soziologe Steffen Mau kritisch gegenüber. Von amerikanischen Verhältnissen ist die deutsche Gesellschaft seiner Meinung nach meilenweit entfernt. Aber Steffen Mau stellt fest: „Die gesellschaftlichen Polarisierungen werden von oben überhaupt erst erzeugt. Nämlich durch, wie wir sie nennen, „Polarisierungsakteure“, die stark auf solche Formen der Teilung setzen.“ Selbst die demokratischen Parteien der Mitte sind heutzutage stärker darauf angewiesen, ihre eher passiven, nicht ideologisierten Wählerschaften über Affektpolitik zu gewinnen.

Donna Haraway ist eine der einflussreichsten und innovativsten Philosophinnen der Gegenwart. Ihr jüngstes Buch trägt den Titel „Unruhig bleiben“. Die Moderne hat Abstraktionen wie Fortschritt, Geschichte, Wachstum und so weiter errichtet. Donna Haraway sagt: „Wir haben diese Ideale geliebt, aber sie sind zerbrochen und in sich zusammengestürzt. Doch gerade in solchen Momenten besteht die Möglichkeit einer Veränderung. Das ist der Kern meiner Gedanken.“ Auf die Frage, ob sie nicht verzweifelt sei, antwortet sie: „Ich finde, dass Verzweiflung eine Form von geistiger Faulheit ist.“

Von Hans Klumbies