Manchmal fächert sich die eigene Identität regelrecht auf

Im neuen Philosophie Magazin 01/2024 geht es im Titelthema um alternative Leben nach dem Motto: „Wer wäre ich, wenn …?“ Viele Möglichkeiten, sich zu entwerfen, bleiben im Laufe eines Lebens unverwirklicht. Die Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler schreibt: „Es gibt Momente, in denen sich die eigene Identität regelrecht auffächert.“ Tatsächlich sind Lebensumstände ja nicht einfach wie Kleider, die man einer festen, unveränderbaren Identität überwirft. Lebensumstände haben die Macht, einen Menschen tief zu verändern. Oder noch stärker: Sie haben die die Kraft, einer Person die Möglichkeit eines ganz anderen Ich zu eröffnen. Zunächst einmal kann man das eigene Leben nur vor dem Hintergrund vorstellbarer Alternativen als gestaltbar erfahren. Es stimmt, dass man die Vergangenheit nicht ändern kann. Und doch gibt es auch Entscheidungen, die sich zurücknehmen oder mindestens überdenken lassen.

Jeder trägt eine zweite Welt in sich

Viele Menschen sind fasziniert von der Frage nach möglichen alternativen Verläufen ihres Lebens. Der Philosoph David Lauer erläutert: „Menschen fühlen, dass für die Frage, wer sie jetzt und hier sind, die vergangenen Möglichkeiten, die ihnen offenstanden, die sie jedoch nicht ergriffen haben, nicht weniger entscheidend sind als die, die sich tatsächlich gewählt haben.“ Die Gegenwart, so meint Martin Heidegger, gewinnt nur aus dem Zukunftsbezug ihre Bedeutung. Menschen treffen ihre jetzigen Entscheidungen, indem sie aus einer gedanklich vorweggenommenen Zukunft auf den gegenwärtigen Moment zurückzublicken versuchen.

Die Angst, an einem Punkt des Daseins falsch abzubiegen, ist groß. Um diese Angst zu entschärfen, erteilt das Philosophie Magazin fünf philosophische Ratschläge. Die Ratgeber heißen Søren Kierkegaard, Novalis, Jean-Paul Sartre, Friedrich Nietzsche und Robert Pfaller. Letztgenannter meint: „Jeder hat eine zweite Welt. Man trägt sie in sich und ist auf sie angewiesen, um die erste Welt zu ertragen. Nur ein geträumtes Leben, das sich vom gelebten unterscheidet, ist in der Lage, uns in diesem verharren zu lassen.“

Rosa Luxemburg widmet sich ganz einer Sache: dem Marxismus

Die Klassikerin im neuen Philosophie Magazin heißt diesmal Rosa Luxemburg. Obwohl ihr Werk so vielseitig wie facettenreich ist, widmet sie sich dennoch inhaltlich ganz einer Sache: dem Marxismus. Dieser ist für sie keine Doktrin, sondern muss aktiv gelebt und ständig neu interpretiert werden. Außerdem muss der Marxismus für Rosa Luxemburg internationalistisch sein. Von nationalistischen Ressentiments distanziert sie sich stets leidenschaftlich.

Der Historiker und Schriftsteller Per Leo verfasst einen strategischen Essay über Klugheit im Konflikt. Wer sich beispielsweise mit den Wählern der AfD beschäftigt, erlangt zu der Erkenntnis, dass der Populismus zwar keine Lösungen hat, wohl aber ein waches Gespür für unerledigte Aufgaben und unerfüllte Bedürfnisse. Es ist also eher Symptom als Ursache der Krise. Per Leo betont: „Wer den Populismus wörtlich versteht, hat schon verloren. Doch wenn die Demokratie ihn zu deuten weiß, wird sie am Ende gewinnen – und zwar sich selbst.“

Von Hans Klumbies