Die Spezies Mensch droht die Vernichtung

Die Abgrenzung zwischen „Tier“ und „Mensch“ war eine der wichtigsten Aufgaben der Philosophie. Sie nahm eine exklusive Vernunftbegabung an, um die außerordentliche Stellung des Menschen nicht nur auf der Erde, sondern sogar im Kosmos zu legitimieren. Als unspezifischer Gegenbegriff zum Menschen geistert „das Tier“ in einem verallgemeinerten Singular durch die Philosophiegeschichte. Lisz Hirn fordert: „Gerade wir, die wir durch die uns drohende Vernichtung Fragile geworden sind, erleben diese Kluft zwischen Fleisch und Geist, bedürfen einer neuen Anthropologie, die sich nicht jenseits, sondern in unserer Verletzlichkeit verortet.“ Laut Giorgio Agamben ist der Mensch in der westlichen Kultur immer als Trennung und Vereinigung eines Körpers und einer Seele gedacht worden. Lisz Hirn arbeitet als Publizistin und Philosophin in der Jugend- und Erwachsenenbildung, unter anderem am Universitätslehrgang „Philosophische Praxis“.

Die KI stellt die letzten Ansprüche menschlicher Würde infrage

Den Menschen stattdessen als Ergebnis der Entkopplung dieser zwei Elemente zu denken macht es Lisz Hirn möglich, das Praktische und Politische der Trennung zwischen Tier und Mensch, Fleisch und Fleischwerdung zu erforschen. Der Mensch ist das Tier, das man nicht essen darf. Dieser „fleischliche“ Hochmut ist aber nicht seine einzige Besonderheit. Was ihn wirklich von anderen zu unterscheiden scheint, ist das Wissen um den eigenen Tod. Aus diesem Grunde mag der Mensch auch das einzige Lebewesen sein, das beerdigt. Es ist eine Möglichkeit, die Unverfügbarkeit des Todes zu bewältigen.

Die Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz (KI) stellt die letzten Ansprüche menschlicher Würde infrage. Die Kunst war eine der letzten Reservate, in das sich viele zurückziehen konnten und sich den künstlichen Intelligenzen überlegen sahen. Mit dem Einsatz von ChatGPT sieht man diese Zukunft endgültig in Gefahr. Die Ironie an der Sache ist, dass die Tätigkeiten, die man über längere Zeit wenig feierte, die sind, die zukünftig am wahrscheinlichsten den Menschen vorbehalten sind. In der Wiener Zeitung konnte man lesen, dass der sicherste Beruf in der Zukunft der des Installateurs sei.

Nur der Mensch ist ein ernstes philosophisches Problem

Lisz Hirn stellt fest: „Man lasse sich also von aktuellen Entwicklungen nicht täuschen: Das biologisch Menschliche und das technisch Menschliche sind voneinander untrennbar. Die eigentliche Emotionalisierung passiert immer dann, wenn uns die Maschine in Bereichen übertrifft, in denen wir uns für einzigartig halten.“ Schon jetzt verrichten Maschinen schwere körperliche oder geistig aufwendige Arbeit effizienter und exakter als menschliche und nichtmenschliche Tiere. Daher ist es ein schwieriges bis aussichtsloses Unterfangen, die Würde des Menschen weiterhin über seine Arbeit zu garantieren.

Dennoch kann die Digitalisierung bei Weitem nicht alles Analoge in digitale Signale umwandeln. Gerade das exponentielle Wachstum von künstlicher Intelligenz und ihre apokalyptischen Reiter Fake News und Deepfakes könnten paradoxerweise dazu führen, dass zukünftige ausschließlich die leibliche Präsenz als Zeugnis gelten könnte. Für Lisz Hirn gibt es nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Menschen: „Das Verletzlichste an uns ist das Menschliche, nicht unser Fleisch.“

Der überschätzte Mensch
Anthropologie der Verletzlichkeit
Lisz Hirn
Verlag: Zsolnay
Gebundene Ausgabe: 126 Seiten, Auflage: 2023
ISBN: 978-3-552-07343-2, 20,00 Euro

Von Hans Klumbies