Gewinner glauben ihren Erfolg verdient zu haben

In einer Gesellschaft der Ungleichheit wollen diejenigen, die ganz oben landen, daran glauben, dass ihr Erfolg moralisch gerechtfertigt ist. Michael J. Sandel erläutert: „In einer meritokratischen Gesellschaft heißt das, die Gewinner müssen glauben, dass sie ihren Erfolg aufgrund des eigenen Talents und harter Arbeit verdient haben.“ Diejenigen, die beispielsweise mit glänzenden und legitimen Referenzen an einer Universität zugelassen werden, sind auf ihre Leistung stolz. Sie vertreten die Ansicht, sie seien aus eigener Kraft reingekommen. Doch das ist für Michael J. Sandel in gewisser Weise irreführend. Es trifft zwar zu, dass ihre Zulassung Hingabe und harte Arbeit widerspiegelt. Doch man kann nicht wirklich sagen, das sei allein ihr eigenes Werk. Michael J. Sandel ist ein politischer Philosoph, der seit 1980 in Harvard lehrt. Er zählt zu den weltweit populärsten Moralphilosophen.

Dankbarkeit und Demut sind schwer zu erlernen

Was ist mit den Eltern und Lehrern, die ihnen unterwegs geholfen haben? Was ist mit dem glücklichen Umstand, in einer Gesellschaft zu leben, in der die Talente, die sie zufällig haben, gefördert und belohnt werden? Es gibt jedoch immer diejenigen, die sich in einer wettbewerbsorientierten Meritokratie aufgrund von Anstrengung und Talent durchsetzen. Doch sie stehen auf eine Weise in der Schuld, die der Wettbewerb verdeckt. Insofern vermittelt selbst eine faire Leistungsgesellschaft ohne Betrug oder Bestechung einen falschen Eindruck. Nämlich den, dass man es aus eigener Kraft geschafft hat.

Bewerbern von Elite-Unis in den USA werden Jahre voller Mühe und Anstrengung abverlangt. Diese zwingen sie schon fast, daran zu glauben, ihr Erfolg sei ihr eigenes Werk. Und falls sie scheitern, sei niemanden außer ihnen selbst ein Vorwurf zu machen. Michael J. Sandel stellt fest: „Für junge Leute ist das eine schwere Bürde. Und sie wirkt zersetzend auf empfindliche Werte der Zivilgesellschaft. Denn je mehr wir uns für eigenverantwortlich und autark halten, desto schwieriger ist es, Dankbarkeit und Demut zu lernen.“

Die Abrechnung mit Verdienst und Leistung ist überfällig

Doch ohne diese Empfindungen ist es so gut wie unmöglich, sich um das Gemeinwohl zu sorgen. In der Politik gibt es derzeit eine Menge Debatten darüber, wer was verdient. An der Oberfläche geht es dabei um Fairness. Haben alle eine wirklich gleiche Chance im Wettbewerb um wünschenswerte Güter und gesellschaftliche Positionen? Michael J. Sandel weiß: „Doch unsere Uneinigkeiten über Verdienste betreffen nicht nur die Fairness. Sie handeln auch davon, wie wir Erfolg und Scheitern definieren.“

Und es geht dabei auch um die Einstellungen, die Gewinner gegenüber denen einnehmen sollten, die weniger erfolgreich sind als sie selbst. Das sind höchst brisante Fragen, welche die meisten Menschen solange zu ignorieren versuchen, bis sie sich ihnen regelrecht aufdrängen. Michael J. Sandel fordert: „Um einen Weg aus der polarisierten Politik unserer Tage finden zu können, brauchen wir eine Abrechnung mit Verdienst und Leistung. In einer Zeit, in der die Wut auf Eliten die Demokratie an den Rand des Abgrunds geführt hat, gewinnt die Frage nach den Verdiensten eine besondere Dringlichkeit. Quelle: „Das Ende des Gemeinwohls“ von Michael J. Sandel

Von Hans Klumbies