Ökonomie und Polarisierung entmachten die Demokratie

In seinem Buch „Das Unbehagen in der Demokratie“ beschreibt Michael J. Sandel wie nicht rechenschaftspflichtige Macht und verfestigte Polarisierung zusammenhängen. Beide entmachten demokratische Politik. Der Autor schreibt: „Die Kulturkämpfe sind so kontrovers und unwiderstehlich, dass sie uns davon abhalten, gemeinsam das System von einseitiger Manipulation zu befreien.“ Um die amerikanische Demokratie wieder aufleben zu lassen, muss man zwei Fragen erörtern. Wie kann man die Wirtschaft so reformieren, dass sie demokratischer Kontrolle unterliegt? Und wie kann man die Polarisierung abschwächen, damit die Amerikaner die Fähigkeit erlangen, sich zu effektiven demokratischen Bürgern zu entwickeln? Es kommt also darauf an, einerseits wirtschaftliche Macht zur Verantwortung zu ziehen und andererseits die Bürgerschaft zu stärken. Michael J. Sandel ist ein politischer Philosoph. Er studierte in Oxford und lehrt seit 1980 in Harvard. Er zählt zu den weltweit populärsten Moralphilosophen.

Das Gefühl der Entmachtung greift massiv um sich

Das öffentliche Leben der Amerikaner ist von viel Unzufriedenheit geprägt. Das Vertrauen in ihre Mitbürger nimmt immer schneller ab. Es gibt zwei Sorgen, die im Zentrum der Unzufriedenheit mit der Demokratie liegen. Michael J. Sandel erläutert: „Da ist erstens die Befürchtung, dass wir individuell wie kollektiv die Kontrolle über die Mächte verlieren, die unser Leben bestimmen. Und zweitens das Gefühl, dass sich das moralische Geflecht um uns herum – von der Familie über das Stadtviertel bis zur Nation – auflöst.“

Der Kapitalismus und die Demokratie haben lange in einer angespannten Koexistenz gelebt. Der Kapitalismus strebt danach, produktive Tätigkeit für privaten Gewinn zu organisieren. Die Demokratie strebt an, Bürger zu gemeinschaftlicher Selbstverwaltung zu ermächtigen. Die politische Ökonomie der Demokratie war von Beginn an ein Versuch, diese beiden Konzepte zu vereinen. Leider hat sich inzwischen viel verändert. Innerhalb der ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts ist die Unzufriedenheit intensiver, der Verlust sozialen Zusammenhalts durchgreifender und das Gefühl der Entmachtung ausgeprägter geworden.

Moralisch umstrittene Fragen darf man nicht aus der Debatte verbannen

Geld spielt in der amerikanischen Politik seit langer Zeit eine herausragende Rolle. Doch in den letzten Jahrzehnten haben die enormen, ungerechtfertigten Gewinne für die Reichen die Stimme der meisten Bürger fast zum Schweigen gebracht. Vor allem, wenn es darum geht, wie sie regiert werden. Mit Geld kauft man nicht nur Wahlen – es kauft auch den Zugriff auf die Behörden, welche die Regeln zur Lenkung der Wirtschaft machen. Dass das Volk bei Wahlen das letzte Wort behält, ist eine Illusion.

Die Neigung zur Neutralität verbiegt den Liberalismus in Richtung auf den Marktglauben. Der stärkste Reiz der Märkte liegt nicht darin, dass sie Effizienz und Wohlstand bringen. Sondern er ist darin begründet, dass sie scheinbar den Bürgern die Notwendigkeit ersparen, strittige Debatten darüber zu führen, wie Güter zu bewerten sind. Das ist am Ende ein falsches Versprechen. Verbannt man moralisch umstrittene Fragen aus der Debatte, bleiben sie dennoch nicht entschieden. Michael J. Sandel weiß: „Es läuft schlicht darauf hinaus, dass die Märkte, überwacht von den Reichen und Mächtigen, diese Frage für uns beantworten.“

Das Unbehagen in der Demokratie
Was die ungezügelten Märkte aus unserer Gesellschaft gemacht haben
Michael J. Sandel
Verlag: S. Fischer
Gebundene Ausgabe: 512 Seiten, Auflage 2: 2023
ISBN: 978-3-10-397498-0, 32,00 Euro

Von Hans Klumbies