Ökonomen bewerten das Leben statistisch

Es ist eindeutig nicht so, dass das Leben heilig und nicht verhandelbar ist. Sozialstatistiken beweisen, dass Millionen von Menschen auf der ganzen Welt aufgrund von Vernachlässigung und mangelnder Behandlung sterben. Auch viele moderne Bürokratien wägen bei der Zuteilung von Ressourcen die Wahrscheinlichkeiten auf Kosten von Leben und Tod ganz selbstverständlich ab. Adam Tooze ergänzt: „Jeden Tag, überall auf der Welt, werden Arbeitnehmer tödlichen Risiken ausgesetzt, um ihren Arbeitgebern zusätzliche Kosten zu ersparen.“ Die Einbeziehung des Todes in ein ökonomisches Kalkül ist unausweichlich, zugleich aber auch, wie seine Einbeziehung in die Politik, instabil und umstritten. Obwohl es eigentlich unmöglich ist, einem menschlichen Leben einen Wert beizumessen, haben Ökonomen die Technik entwickelt, „statistische Leben“ zu bewerten. Adam Tooze lehrt an der Columbia University und zählt zu den führenden Wirtschaftshistorikern der Gegenwart.

Es gibt allgemeine Messgrößen für die Lebensqualität

Sie messen, wie viel es den Menschen wert ist, ihr Sterblichkeits- oder Krankheitsrisiko zu verringern. Älteren Menschen mit Vermögen ist die Verlängerung ihres Lebens sehr viel wert. Auf sie entfällt der überwiegende Anteil der enormen Gesundheitsausgaben reicher Gesellschaften. Bei Entscheidungen über die Zuteilung knapper medizinischer Ressourcen bedienen sich einige Gesundheitssysteme allgemeinerer Messgrößen für die Lebensqualität. Aber die Tragweite dieser Entscheidungen über Leben und Tod ist begrenzt.

Adam Tooze stellt fest: „Die Entscheidungen werden zwischen spezifischen Alternativen getroffen, hinter verschlossenen Türen und nicht in einem Moment der allgemeinen Krise, im vollen Licht der Medienaufmerksamkeit.“ Man kann sich für einen Augenblick vorstellen, ein ähnliches Kalkül auf die gesamte kollektive Reaktion auf das Coronavirus anzuwenden. Die Frage ist folgende: Wie hoch ist der „Restwert“ des Lebens der überwiegend älteren Patienten, die man durch einen sofortigen und massiven Shutdown retten könnte?

Die Zahl der Hungernden hat durch Corona stark zugenommen

Dagegen muss man in Rechnung stellen die Kosten für die 1,6 Milliarden jungen Menschen, deren Ausbildung einen Bruch erleidet. Und nicht vergessen darf man die Hunderten von Millionen, die ihre Arbeit verloren haben und die Dutzenden von Millionen, die als Folge der weltweiten wirtschaftlichen Verwerfungen Hunger leiden. Adam Tooze weiß: „Das ist eine strittige, unangenehme und grobe Frage. Um sie ernst zu nehmen, müsste man die systematischen Auswirkungen einer ungebremsten Pandemie mit einberechnen – das kollektive Trauma.“

Dazu kommt der institutionelle Schaden, das Potenzial für langfristige gesundheitliche Auswirkungen und das Risiko von Mutationen, um nur einige Aspekte zu nennen. Auf jeden Fall ist eine solche Berechnung die Grundlage, auf der eine „ökonomische“ Kritik an der Covid-Reaktion fußt. Sie beharrt, so unappetitlich das auch sein mag, auf der Realität eines Zielkonflikts. Und es gibt immerhin eine vertraute Sprache, in der man einen solchen Zielkonflikt formulieren kann. Quelle: „Welt im Lockdown“ von Adam Tooze

Von Hans Klumbies