Das Zeitalter des Narzissmus ist ausgebrochen

Eine gewisse Form von Ich-Bezogenheit kann überhaupt erst entstehen, wenn ein Mensch ein Bild von sich sieht, ein Spiegelbild, ein Porträt oder ein Foto. Konrad Paul Liessmann erläutert: „Denn nur dann sehe ich etwas, was ich ansonsten nicht sehen kann: mich. Das „Mich der Wahrnehmung“, wie es der Philosoph Lambert Wiesing genannt hat, ist mir immer nur als Bild zugänglich.“ Ohne dieses sieht ein Mensch nur Teile seines Körpers – nie den Rücken, nie das Gesicht – und dass man sich in den Reaktionen und Verhaltensweisen anderer spiegeln kann, ist eine Metapher, die die Erfahrung des Selbst im Bild schon voraussetzt. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

Narziss konnte den Blick von seinem Bild nicht abwenden

Narziss, der wegen seiner Schönheit vielbegehrte, der alle Angebote und Liebesbekundungen zurückgewiesen hatte, begehrte und verzehrte sich nach dem, was sich ihm am Ufer des Sees bot, ohne sich im anzubieten: das Bild seiner Selbst. Narziss hat sich nicht selbst gemalt, er hat sich auch nicht bewusst malen lassen, er wurde durch ein Naturphänomen mit dem Bild seines Selbst konfrontiert. Er hatte das Glück oder Unglück, schön zu sein, und konnte den Blick von seinem Bild nicht abwenden.

Konrad Paul Liessmann schreibt: „Das aber bedeutete auch: Er war und blieb unfähig, sich anderen Wesen zuzuwenden; die Nymphe Echo, die ihn liebte, hätte davon ein Lied singen können, wäre sie nicht gezwungen gewesen, nur die Laute zu wiederholen, die verhallend an ihr Ohr drangen.“ Die westliche moderne Welt lebt, so lautete die Diagnose des amerikanischen Historikers Christopher Lasch, in einem „Zeitalter des Narzissmus“. Christopher Lasch hatte das Buch mit diese These 1979 publiziert, und vieles davon mag überholt erscheinen.

Überall sieht und spürt man ichbezogene Menschen

Aber ein Zeitalter endet nicht nach wenigen Tagen. Aus dem ehemaligen von der Psychoanalyse Sigmund Freuds inspirierten Krankheitsbild der narzisstischen Störung wurde ein gesellschaftliches Phänomen. Überall so Christopher Lasch, sehen und spürt man ichbezogenen Menschen, ohne Interesse an langfristigen Bindungen und der Zukunft, ohne Bedürfnis, sich in einem größeren Zusammenhang zu sehen, ohne historisches Gefühl, nur dem Moment gehorchend und immer auf der Suche nach dem eigenen Selbst.

Christopher Lasch schreibt: „Für den Augenblick, für sich selbst zu leben und nicht für Vorfahren oder Nachwelt, das ist die heute vorherrschende Passion.“ Dieser Augenblick ist aber durch die technischen Medien vermittelt. Es ist keine natürliche Unmittelbarkeit mehr, sondern der festgehaltene Augenblick – allerdings nicht im faustischen Sinne „Verweile doch, du bist so schön“, sondern als permanenter Imperativ, den je aktuellen Moment des Daseins auf Dauer zu stellen. Wie bei Narziss verläuft die Kommunikation nur mehr zwischen dem Subjekt und den Bildern, die dieses Subjekt von sich hat. Quelle: „Bildung als Provokation“ von Konrad Paul Liessmann

Von Hans Klumbies