Im Grunde genommen enthält jedes Moralsystem eine Variante der im Kern gleichen Goldenen Regel. Konfuzius definiert sie wie folgt: „Was du selbst nicht wünschest, das tue auch nicht anderen an.“ Der griechische Philosoph Thales von Milet beschreibt die Goldene Regel folgendermaßen: „Indem wir niemals das tun, was wir an andern tadeln.“ Und Buddha spricht: „Tue anderen nichts, was dir Schmerzen verursachte, würde es dir getan.“ Viele Dozenten der Moralphilosophie haben Julian Biaggi allerdings immer wieder versichert, dass die meisten Studenten zu Beginn ihres Studiums davon überzeugt sind, dass Moral etwas Relatives ist. Unter den Autoren Großbritanniens, die sich mit dem Thema Philosophie auseinandersetzen, zählt Julian Baggini zu den bekanntesten. Viele seiner Bücher, die auch von der Kritik hoch gelobt wurden, entwickelten sich zu Bestsellern.
Die Goldene Regel existiert in zwei gegensätzlichen Formen
Es stimmt zwar, dass was in einer Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte für richtig gilt, in anderen Kulturen zu anderen Zeiten und an anderen Orten für falsch gelten mag. Doch diese weit verbreitete Ansicht steht im Widerspruch zu einer ebenso zutreffenden Beobachtung, die die universelle Gültigkeit der Goldenen Regel betrifft. Julian Baggini erklärt: „Mag die Welt auch eine Vielzahl von miteinander unvereinbaren moralischen Werten enthalten, scheint im Hinblick auf das grundlegende Prinzip Einigkeit zu bestehen.“
Die Goldene Regel gibt es in zwei gegensätzlichen Formen, einer positiven und einer negativen. Die positive Form besagt, Mitmenschen so zu behandeln, wie man selbst von ihnen behandelt werden möchte. Die negative Goldene Regel drückt aus, andere nicht so zu behandeln, wie man selbst nicht behandelt werden will. Die erste besagt, was die Menschen tun sollen, die zweite, was sie unterlassen sollen. Das macht für Julian Baggini je nach Auslegung einen erheblichen Unterschied. Die negative Form kann als eine auf die Minimierung von Leid beschränkte Ethik aufgefasst werden.
Der Unterschied zwischen tun und lassen ist moralisch oft ohne Bedeutung
Die positive Ausprägung dagegen schließt auch Handlungen ein, die darüber hinausgehen. Man könnte sie auch als eine Ethik der Maximierung des allgemeinen Wohlergehens bezeichnen. Die Menschen sollen andere gut behandeln und nicht nur vermeiden, sie schlecht zu behandeln. Julian Baggini nennt als konkretes Beispiel das Verhalten im Straßenverkehr: „Nach der negativen Form kann ich tun und lassen, was ich will, solang ich nicht andere durch meine Fahrweise gefährde. Die positive Form jedoch verpflichtet mich stärker. Nach ihr soll ich anhalten und helfen, wenn ich einen anderen Verkehrsteilnehmer mit einer Autopanne am Fahrbahnrand sehe, oder den Notruf wählen, wenn ich Zeuge eines Unfalls werde.“
In der Moralphilosophie scheint es also einen wichtigen Unterschied zu geben zwischen dem, was jemand tut, und dem, was jemand nicht tut, also zwischen tun und lassen. Doch für Julian Baggini spricht vieles dafür, dass diese Differenzierung nicht immer sehr tiefgehend und moralisch oft ohne Bedeutung ist: „Manch eine unterlassene Handlung empfinden wir als genauso schlimm und manchmal gar noch schlimmer als Dinge, die tatkräftigen körperlichen Einsatz erfordern. Entscheidend für ein verantwortungsbewusstes Handeln scheint demnach nicht das mit einer Handlung verbundene Quantum an Aktivität zu sein, sondern das Quantum an Kontrolle über den Ausgang einer Handlung.“
Von Hans Klumbies