Die vielen inneren Uhren des Menschen sind äußerst lernfähig

Im menschlichen Organismus laufen alle Lebensprozesse nach bestimmten Rhythmen ab, die höchst unterschiedlich sind. Die Naturwissenschaft verfolgte allerdings bis Mitte des 20. Jahrhunderts das Dogma, dass sich Lebewesen nur deshalb rhythmisch verhalten, weil sie auf Signale ihrer Umwelt reagieren. Der deutsche Chronobiologe Jürgen Aschoff fand in den 1960er Jahren durch Bunkerexperimente heraus, dass der Mensch eine innere Uhr besitzt. Trotz völliger Isolation behielten die Versuchspersonen ihren Biorhythmus bei. Inzwischen wissen die Wissenschaftler, dass es bei den Menschen nicht nur eine, sondern Milliarden innerer Uhren gibt. Kurt Langbein erklärt: „Jede Körperzelle besitzt eine, jede mit ihrem eigenen Rhythmus. Die verschiedenen Uhren sind hierarchisch organisiert – so besitzt jedes Organ seine eigene Uhrengruppe, welche die interne zeitliche Koordination regelt.“ Kurt Langbein studierte in Wien Soziologie und ist seit 1992 geschäftsführender Gesellschafter der Produktionsfirma Langbein & Partner Media. Er ist unter anderem Autor des Bestsellers „Bittere Pillen“.

Die Rhythmus der inneren Uhren hat einen antizipatorischen Charakter

In einer Art Austauschprogramm halten sich die Uhrengruppen der Körperorgane und Körperzellen ständig im gleichen Takt. Dabei sind die sogenannten Uhren-Gene ihr Herzstück, die Informationen für die Herstellung von Proteinen enthalten. Kurt Langbein erläutert: „Von Tagesbeginn an produzieren sie solange Proteine, bis ein bestimmter Höchstwert erreicht ist – in der Folge wird der langsame Abbau eingeleitet.“ Die oberste Steuereinheit ist das Gehirnareal suprachiasmatisches Nucleus (SCN).

Die Befehlszentrale und alle ihr untergeordneten Uhren arbeiten dabei keinesfalls starr vor sich hin, sondern passen sich wie ein Regelkreis veränderten Umständen an und sind äußerst lernfähig. Björn Lemmer, Direktor des Instituts für Pharmakologie und Toxikologie der Universität Heidelberg, ergänzt: „Diese rhythmische Organisation hat einen antizipatorischen Charakter: Der Körper weiß etwa um drei Uhr nachts, dass der Blutdruck um sieben oder acht Uhr ansteigen wird. Das sind selbstorganisierende Rhythmen, die voraussagen, was der Körper machen wird.“

Schichtarbeiter leiden an Schlafstörungen und sind anfällig für Depressionen

Auch die Rhythmen des Lebens ticken im menschlichen Körper individuell höchst unterschiedlich. Nach chronobiologischen Erkenntnissen gleicht kein Mensch dem anderen. Dennoch tendiert jeder mehr oder weniger zum Morgen- oder Abendtyp. Wolfgang Marktl, Präsident der Wiener Akademie für Ganzheitsmedizin, betont: „Extreme Chronotypen sind aber selten, die meisten Menschen sind Mischformen.“ Die Ausprägung des Chronotyps beginnt bereits in der Kindheit, lediglich während der Pubertät sind die meisten Jugendlichen tendenziell Abendtypen.

Erst am Beginn stehen die Wissenschaftler bei der Frage, welche Änderung diverser Rhythmen für Krankheiten verantwortlich ist. Störungen der rhythmischen Koordination von Körperfunktionen können inzwischen mit ziemlicher Sicherheit als erstes Warnzeichen für eine kommende Erkrankung wahrgenommen werden. Vor allem Schichtarbeiter sind ein warnendes Beispiel dafür, welche Folgen ein dauerhaftes Leben gegen die Uhr haben kann. Denn sie müssen gerade dann aktiv sein, wenn die inneren Uhren eigentlich Ruhe diktieren. Überdurchschnittlich häufig leiden sie unter Schlafstörungen, Magen- und Verdauungsproblemen und sind auch anfälliger für Depressionen.

Von Hans Klumbies