Die Entdeckung der Vernunft durch den griechischen Philosophen Sokrates enthält für José Ortega Y Gasset den Schlüssel zur europäischen Geschichte, ohne den die Vergangenheit und Zukunft unverständliche Hieroglyphen sind. Vor Sokrates besaßen auch schon Parmenides und Herakles die Vernunft, doch sie wussten es nicht. Der spanische Philosoph schreibt: „Sokrates als erstem war es bewusst, dass die Vernunft ein neues Universum ist, vollendeter und erhabener als das, welches wir im spontanen Leben um uns her vorfinden.“ Die sichtbaren und tastbaren Dinge sind einem ständigen Wechsel unterworfen, sie erscheinen und vergehen und verwandeln sich ineinander. Dasselbe geschieht in der Seele des Menschen: Wünsche und Neigungen wandeln und widersprechen sich.
Die Aufgabe des Menschen im Zeitalter der Vernunft
José Ortega Y Gasset stellt fest: „Weder was uns umgibt, noch was wir sind, gewährt uns den sicheren Ort, wo unser Geist vor Anker gehen kann.“ Die reinen Begriffe dagegen bilden ein Reich unwandelbarer, vollkommener, exakter Wesen. Die Begriffe treten zueinander in klare, eindeutige Beziehungen. Die reinen Begriffe sind klarer, widerspruchsfreier und härter als die vitalen Dinge der Umwelt des Menschen. Sie richten sich nach exakten, unwandelbaren Gesetzen.
Sokrates hatte keinen Zweifel daran, dass er mit der Vernunft die wahre Realität entdeckt hatte, wodurch die andere Realität, die des spontanen Lebens, automatisch entwertet schien. Diese Einsicht führte Sokrates und sein Zeitalter zu der klaren Stellungnahme, wonach die Aufgabe des Menschen darin besteht, Spontanes durch Vernunftgemäßes zu ersetzen. Der Mensch muss demnach auf geistigem Gebiet seine spontanen Überzeugungen, die nichts weiter als seine Meinung sind, unterdrücken und statt ihrer die Satzungen der reinen Vernunft anerkennen, die das wahre Wissen sind.
Die Grenzen der reinen Vernunft
Außerdem muss der Mensch bei seinen Handlungen alle angeborenen Wünsche und Neigungen verneinen, um gehorsam den Geboten der Vernunft zu folgen. José Ortega Y Gasset erläutert: „Die Aufgabe des sokratischen Zeitalters also war, das spontane Leben zu verdrängen und durch die reine Vernunft zu ersetzen.“ Diese Anstrengung bringt allerdings eine Dualität ins menschliche Leben, da die Spontaneität nicht aufgehoben werden kann. Der Mensch kann sie nur zurückdämmen und zügeln.
Jahrhunderte später, von der Renaissance bis zum Jahr 1700, werden die großen rationalistischen Systeme errichtet, in denen die Vernunft gewaltige Gebiete umspannt. José Ortega Y Gasset schreibt: „Einen Augenblick lang konnten sich die Menschen der Illusion hingeben, dass die sokratische Hoffnung in Erfüllung gehe und alles Leben den Grundsätzen der reinen Vernunft unterworfen sei.“ Denn nach dem Jahr 1700 entdeckte der Rationalismus die Grenzen der Vernunft gegen das unendliche Gebiet des Irrationalen. Das Zeitalter der kritischen Philosophie hatte begonnen.
Von Hans Klumbies