Für Kinder sind Anregungen in der Vorschulzeit besonders bedeutsam

Der von der heutigen Arbeitswelt ausgehende tief greifende Wandel der Gesellschaft hat auch die Voraussetzungen für die Erziehung von Kindern und Jugendlichen enorm verändert. Joachim Bauer stellt fest: „Das Ausmaß dieser Veränderungen und die Auswirkungen, die sie auf unsere Kinder und Jugendlichen haben, sind im Bewusstsein unserer Gesellschaft noch nicht angekommen.“ Selbstkontrolle, Selbststeuerung, Autonomie und die Fähigkeit, einen freien Willen zu bilden, setzen eine ungestörte Entwicklung des Gehirns voraus, die ihrerseits nur stattfindet, wenn Kinder angeleitet werden. Unter dem Einfluss der Beziehungserfahrungen, die Kinder und Jugendliche in ihrem unmittelbaren Umfeld machen, verändert ihr Gehirn seine Strukturen. Die Einflüsse der Umwelt spielen für die neurobiologische und psychische Entwicklung von Kindern eine quantitativ weit bedeutendere Rolle als Effekte von genetischen Varianten. Der Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut Joachim Bauer lehrt an der Universität Freiburg.

Erfahrungen von Gewalt haben fatale Folgen für das Gehirn

Als besonders bedeutsam haben sich – Studien zufolge – die Anregungen herausgestellt, die Kinder bereits in den ersten vorschulischen Lebensjahren erhalten. Nicht nur Extreme wie schwere Vernachlässigung oder Traumatisierung wirken sich auf das Gehirn aus. Wenn sich beispielsweise nur die Qualität der Beziehungen von Kindern zu ihren Hauptbezugspersonen vermindert, so verringert sich das Volumen wichtiger Hirnanteile – wie etwa des für die Bildung des Gedächtnisses maßgeblichen Hippocampus – signifikant.

Vernachlässigung und erst recht Erfahrungen von Gewalt haben fatale Folgen für das Gehirn. Hiervon betroffene Kinder zeigen eine bis zu 20-prozentige Verminderung des gesamten Hirnvolumens, von welcher natürlich auch der Präfrontale Cortex betroffen ist. Joachim Bauer erklärt: „Die psychischen Folgen sind neben einer beeinträchtigten Fähigkeit zur Selbstkontrolle und deutlich erhöhten Auftreten von Suchtverhalten: Angststörungen, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, schizophrene Erkrankungen und erhöhte Suizidalität.“

Etwa 50 Prozent der Kinder in Deutschland werden vernachlässigt

Wer annimmt, ein in solcher Weise für das Gehirn nachteiliges soziales Umfeld sei für Kinder und Jugendliche in Deutschland die Ausnahme, der irrt sich gewaltig. Joachim Bauer nennt Zahlen: „Von schwerer Vernachlässigung betroffen sind in Deutschland mehr als 10 Prozent, von weniger stark ausgeprägten Formen der Vernachlässigung sogar 50 Prozent der Kinder. Emotional misshandelt werden in unserem Land 17 Prozent, körperlich misshandelt 15 Prozent der Kinder. Sexuellen Missbrauch erleben 15 Prozent der Kinder, davon 2 Prozent schwere sexuelle Misshandlungen.“

Aufgrund einer nicht unerheblichen Dunkelziffer muss vermutet werden, dass Schwierigkeiten nicht nur dort bestehen, wo die Probleme von Kindern und Jugendlichen statistisch erfasst werden konnten. Weitere Messgrößen, die auf die Situation von Kindern und Jugendlichen in Deutschland schließen lassen, sind das Essverhalten und der Konsum gesundheitsschädlicher, potenziell Sucht erzeugender Stoffe. Regelmäßig Alkohol konsumieren in Deutschland etwa 15 Prozent der 12- bis 17-Jährigen. Rund 12 Prozent in dieser Altersstufe sind bereits Raucher. Quelle: „Selbststeuerung“ von Joachim Bauer

Von Hans Klumbies