Die Erziehung der Kinder kommt nicht ohne Autorität aus

In der Regel ist in der Erziehung die Sicherheit dem Freiheitsdrang übergeordnet. Für Paul Verhaeghe ist elterliche Verfügungsgewalt über ihre Kinder heutzutage alles andere als selbstverständlich. Das Kinder frühreifer und frecher sind, ist nur die halbe Wahrheit. Paul Verhaeghe erklärt: „Die sogenannte Frühreife ist nämlich das Ergebnis davon, dass die Eltern Angst haben, mit der elterlichen Position auch die damit verbundene Autorität einzunehmen.“ Ihre Angst äußert sich ferner in zweifellos gut gemeinten, aber falsch verstandenen pädagogischen Prinzipien nach dem Motto „Kinder müssen mitreden dürfen“. Dabei vergessen viele Eltern, dass es sich um Kinder handelt, dass sie für ihre Kinder verantwortlich sind und bei allem Mitspracherecht das letzte Wort behalten müssen. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.

Im Kindergarten und in der Grundschule werden zu wenig Grenzen gesetzt

Paul Verhaeghe betont: „Die Auffassung, Erziehung käme ohne Autorität aus, ist ein Irrtum sondergleichen.“ In der normalen Entwicklung nehmen Eltern gegenüber Kleinkindern und Kindern eine deutliche Autoritätsposition ein und lassen ihrem Nachwuchs allmählich immer mehr Autonomie, bis er „volljährig“ ist. Derzeit kehren viele Eltern diese Reihenfolge häufig um. Kleinkinder dürfen so ungefähr alles, und auch im Kindergarten und in der Grundschule werden wenig Grenzen gesetzt.

Wenn die Kinder dann in die Pubertät kommen und die dazugehörigen Probleme bereiten, versuchen es viele Eltern mit Absprachen. Das scheitert mit Pauken und Trompeten, haben sie doch nie die Grundlagen dafür gelegt. Werden die Probleme dann größer, suchen sie Hilfe bei einem Psychologen oder sogar Psychiater. Es ist für Paul Verhaeghe kein Wunder, dass sich die Lehrer in den Schulen heutzutage so schwer tun. Denn die Schule nimmt eine Position zwischen der häuslichen Umgebung und der Außenwelt ein, zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, zwischen anfänglichem Gehorsam und wachsender Autonomie.

Immer mehr Lehrkräfte leiden unter Burn-out

Das Ziel der Schule ist einerseits die Vermittlung von Wissen, andererseits die Persönlichkeitsbildung junger Menschen. Aktuell erwarten die Eltern von der Schule, dass sie ihren Kindern Autorität vermittelt. Die Schule wiederum klagt, dass Eltern ihre Kinder nicht mehr erziehen. Es gibt immer mehr problematische Schüler, immer mehr Lehrkräfte leiden unter Burn-out. Die Schwierigkeiten in den Schulen nehmen weiter zu, und so gut wie jeder hat dafür eine Erklärung parat. Paul Verhaeghe vertritt die Meinung, dass vor allem das Verschwinden der Autorität dafür verantwortlich ist, die traditionell in der Rolle des Lehrers verkörpert ist.

Die westliche Kultur geht auf die römische Tradition zurück, bei der ein discipulus, ein Schüler, disciplina erwirbt. Disciplina steht für Kenntnis und Erziehung, aber auch für Zucht. Sie wird vom magister, vom Lehrer also, vermittelt. Der magister ist älter und wie es besser; der Schüler ist jünger und weiß viel weniger. Aufgrund dieses Gefälles muss der Schüler auf die Person hören, die von der Gemeinschaft die Autorität dazu erhalten hat. Das Ziel ist, dass der Schüler den Lehrer nach einiger Zeit nicht mehr braucht und selbstständig seiner Wege gehen kann. Quelle: „Autorität und Verantwortung“ von Paul Verhaeghe

Von Hans Klumbies