Hans-Peter Nolting betont, dass es nicht „die“ aggressive Persönlichkeit nicht gibt, sondern eine Reihe von Persönlichkeitszügen, die zu hoher Aggression beitragen. Gehören dazu auch Minderwertigkeitsgefühle? Hans-Peter Nolting erklärt: „Nach einer verbreiteten Ansicht überspielen Menschen mit ihrem harten, verletzenden und auftrumpfenden Verhalten, dass sie tief im Innern unter Selbstwertproblemen, unter Minderwertigkeitsgefühlen leiden.“ Das hört man nicht nur in Alltagsdiskussionen, auch in Teilen der psychologischen Literatur wird diese Deutung vertreten. Das auffällig aggressive Verhalten wäre demnach nur eine Fassade. Doch wie kann man wissen, ob sich dahinter tatsächlich ein angeschlagenes Selbstwertgefühl verbirgt? Niemand kann das sehen, und die Betroffenen selbst klagen gewöhnlich nicht über „Komplexe“. Dr. Hans-Peter Nolting beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Themenkreis Aggression und Gewalt, viele Jahre davon als Dozent für Psychologie an der Universität Göttingen.
Ein positives Selbstwertgefühl ist durchaus ein Zeichen seelischer Gesundheit
Kaum jemand hat sich mit dem Thema so intensiv beschäftigt wie der amerikanische Sozialpsychologe Roy Baumeister, und er verweist auf eine ganze Liste von Befunden, die gegen die Hypothese von Minderwertigkeitsgefühlen sprechen: „Typisch für Menschen mit niedrigem Selbstgefühl ist nicht Aggressivität, sondern im Gegenteil eher gehemmtes, unsicheres, schüchternes Verhalten und Gefühle wie Scham, Angst und Depression.“ Wenn man auf einen hochaggressiven Menschen trifft, dann ist es wahrscheinlicher, dass er positiv von sich denkt als negativ.
Aus diesem Tatbestand darf man allerdings nicht den Umkehrschluss ziehen, ein hohes Selbstwertgefühl fördere Aggressivität. Normalerweise ist ein positives Selbstwertgefühl durchaus ein Zeichen seelischer Gesundheit und keineswegs die Ursache für Aggressivität. Hans-Peter Nolting erläutert: „Wer zum Beispiel aufgrund seiner Kompetenzen und sozialen Einbindungen mit sich zufrieden ist, kann auch auf Kritik gelassen und konstruktiv reagieren.“ Aber es scheint so zu sein, dass es unter all den Menschen mit hohem Selbstwertgefühl auch spezielle Typen mit hoher Aggressivität gibt.
Das Selbstbild eines Narzissten ist unrealistisch überhöht
Hier ist vor allem an Psychopathen und Narzissten zu denken. Narzissten sind allerdings nicht wirklich mit sich zufrieden. Zwar halten sie sich für grandios, doch ihr Selbstbild ist verletzlich, weil es unrealistisch überhöht ist und zwangsläufig auf Widerspruch stößt. Gegen diese Bedrohung seines Egos kämpft der Narzisst auch mit aggressiven Mitteln, und darin kann man einen Versuch sehen, den Mangel an echtem Fundament zu kompensieren. Ihm deshalb einen „Minderwertigkeitskomplex“ zuzuschreiben, ginge aber zu weit.
Ebenfalls in die Richtung von Kompensation gehen Befunde der Psychologen Nathanael Fast und Serena Chen, die nahelegen, dass von Personen in ranghohen Positionen sich jene häufiger aggressiv verhalten, die für ihren Job nicht hinreichend kompetent sind. Offenbar spüren sie ihre Schwäche, sehen ihre Position bedroht und wollen durch aggressives Auftreten die Kontrolle bewahren. Allerdings ist ein solches Verhalten in einer Situation der Überforderung etwas anderes als ein Minderwertigkeitsgefühl als Persönlichkeitszug. Quelle: „Psychologie der Aggression“ von Hans-Peter Nolting
Von Hans Klumbies