Bürgerbewegungen verändern die Gesellschaft

In den sechziger Jahren entstanden in den westlichen liberalen Demokratien eine Reihe machtvoller neuer Gesellschaftsbewegungen. Die Bürgerrechtsbewegung in den USA verlangte, das Versprechen auf Rassengleichheit zu erfüllen. Denn dies war in der Unabhängigkeitserklärung und in der Verfassung seit dem Bürgerkrieg verankert. Francis Fukuyama ergänzt: „Bald darauf schloss sich die Frauenbewegung an, die ebenfalls Gleichbehandlung forderte. Eine Thematik, die durch den starken Zustrom von weiblichen Arbeitskräften sowohl angeregt als auch gestaltet wurde.“ Eine parallel verlaufende soziale Revolution zerschmetterte traditionelle Normen der Sexualität und der Familie. Und die Umweltschutzbewegung veränderte die Ansichten über die Beziehung zur Natur. Weitere Bewegungen folgten, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung, ethnischen Minderheiten, homosexuellen Männern und Frauen und schließlich Transgendern einsetzten. Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Sein Bestseller „Das Ende der Geschichte“ machte ihn international bekannt.

Die 68er-Generation setzt sich für Ausgegrenzte ein

In Europa kam es im Mai 1968 mit den événements in Frankreich zu einer ähnlichen Explosion. Die alte französische Linke hatte man um einen Kern überzeugter Kommunisten aufgebaut. Zu deren Sympathisanten gehörten berühmte Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre. Ihr Programm war weiterhin auf die industrielle Arbeiterklasse und die marxistische Revolution ausgerichtet. Im Lauf der Rebellionen von 1968 verdrängten soziale Belange diese Hauptanliegen, die auch die USA aufgerüttelt hatten.

Dazu zählten die Rechte von Minderheiten, der Status der Frauen und der Umweltschutz. Francis Fukuyama erklärt: „Die proletarische Revolution schien nicht mehr relevant für die Probleme des zeitgenössischen Europa zu sein.“ Zu Studentenprotesten und ausgedehnten Streiks, wie sie ganz Frankreich erfasst hatten, kam es kurz darauf auch in Deutschland, den Niederlangen, Skandinavien und anderswo. Diese linke 68er-Generation konzentrierte sich nicht mehr ausschließlich auf den Klassenkampf, sondern auf die Unterstützung der Rechte einer breiten Palette ausgegrenzter Gruppen.

Menschen werden oft nicht nach ihrem Charakter beurteilt

Solche gesellschaftlichen Bewegungen gingen aus dem Ehrgeiz liberaler Demokratien hervor, die Würde sämtlicher Bürger einheitlich anzuerkennen. Freilich können Demokratien diesen Anspruch nie erfüllen. Denn man beurteilt Menschen ungeachtet der Gesetze oftmals nicht nach ihrem Charakter und ihren Fähigkeiten, sondern nach Vermutungen über sie als Mitglieder gesellschaftlicher Gruppen. In den USA kamen solche Vorurteile beschämenderweise viele Jahre lang in Gesetzen zum Ausdruck.

Diese hinderten schwarze Kinder daran, zusammen mit weißen unterrichtet zu werden, oder verweigerten den Frauen das Stimmrecht, weil sie nicht hinreichend rational seien. Doch als man diese Gesetze änderte, um die Rassentrennung in Schulen aufzuheben und den Frauen das Wahlrecht zu verleihen, hörte die breitere Gesellschaft nicht plötzlich auf, Gruppenmaßstäbe anzulegen. Die psychologischen Bürden von Diskriminierung, Vorurteilen, Missachtung oder auch nur Unsichtbarkeit existieren im sozialen Bewusstsein weiter. Quelle: „Identität“ von Francis Fukuyama

Von Hans Klumbies