2003 waren 4,8 Millionen Menschen arbeitslos

Edgar Wolfrum stellt fest: „Am Vorabend der Agenda 2010 war die Wirklichkeit alarmierend.“ Im November 2002 musste man die Beitragssätze der Gesetzlichen Rentenversicherung von 19,1 Prozent auf 19,4 Prozent erhöhen. Und in das neue Jahr 2003 ging Deutschland mit erheblichen Hypotheken. Die Zahl der Arbeitslosen erreichte zum Jahreswechsel einen neuen Rekord von 4,8 Millionen Menschen. Gleichzeitig war das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2002 nur um 0,2 Prozent gestiegen. Und das Haushaltsdefizit lag mit 3,6 Prozent deutlich über den im EU-Stabilitätspakt erlaubten 3 Prozent. Die Kassen der Sozialversicherungen waren gähnend leer. Überall leuchteten die Alarmlampen auf Rot. Zum Teil erklärten sich die wirtschaftlichen Probleme aus der schlechten konjunkturellen Lage. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg.

Der Westen wollte sein System auf den Osten übertragen

Doch im Kern hatte Deutschland, was sich als viel schlimmer erwies, strukturelle Probleme. Diese konnte man allein durch umfassende Reformen am Arbeitsmarkt, im Steuersystem, in der Finanzverfassung sowie in der Renten- und Krankenversicherung lösen. Alles war im Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung aufgeschoben worden. Denn der ganze Ehrgeiz richtete sich darauf, das bewährte „Modell Deutschland“ auf den Osten zu übertragen. Nun knirschte es überall. Eine Herkules-Aufgabe stand bevor. Die Sozialleistungen waren im Nachkriegsdeutschland immer schon dem Faktor Arbeit aufgebürdet worden.

Nach der Wiedervereinigung jedoch drohte dieses System zu kollabieren. Nun musste man Verzicht üben, um Verbesserungen einzuleiten. Dies war eine voraussetzungsvolle Botschaft. Und hätte die rot-grüne Regierung dabei an die Vermögens- und Erbschaftsteuern gedacht, die im internationalen Vergleich in Deutschland niedrig lagen, wären mehr Menschen gefolgt. Edgar Wolfrum erläutert: „Deutschland sollte zum Innovationsland der Globalisierung werden. Bei den Deutschen wollte man eine Zukunftslust entfachen. Es gelang nicht. Ganz im Gegenteil.“

Es sollte eine „Zeitenwende am Arbeitsmarkt“ erfolgen

Die Agenda 2010 war das überwölbende Dach für unzählige Einzelmaßnahmen. Diese konnten jedoch nur zusammengenommen die beabsichtigte Wirkung entfalten. Nämlich den Paradigmenwechsel in der deutschen Sozialstaatlichkeit. Sie stellte einen Gesamtkomplex aus den Bereichen Arbeitsmarkt, Rente, Gesundheit, Steuern, Familien- und Bildungspolitik dar. Man kann geradezu von einem „catch all“-Begriff sprechend, der nahezu alle Maßnahmen der rot-grünen Regierung bündelte, so unterschiedlich sie auch sein mochten.

Dazu gehörten die Reformen in der Arbeitsmarktpolitik, die zu einer „Zeitenwende am Arbeitsmarkt“ führten. Hartz I bis Hartz IV standen unter der Zielvorgabe, Menschen wieder leichter in Arbeit zu bringen. I bis III waren ziemlich schnell vergessen, alles drehte sich um Hartz IV, womit eine Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II erfolgte. Dies zielte darauf, die Sozialhilfeempfänger wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren, da nun die Bundesagentur für Arbeit für sie zuständig war. Quelle: „Der Aufsteiger“ von Edgar Wolfrum

Von Hans Klumbies

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