Die erbbiologische Erklärung für die Ausbreitung selbstlosen Verhaltens stützt sich auf drei Elemente. Das erste ist Abschreckung. Wer keine Solidarität übt, wird aus dem Gesellschaftsleben ausgeschlossen und zahlt somit einen sehr hohen persönlichen Preis für sein Verhalten. In frühgeschichtlichen Gesellschaften der Sammler und Jäger kam dies einem Todesurteil gleich. Eyal Winter ergänzt: „Eine erfolgreiche Jagd erforderte die enge Zusammenarbeit. Wer nicht an einem Strang zog oder nicht zu teilen bereit war, lief sehr schnell Gefahr zu verhungern und hatte wenig Aussicht sich fortzupflanzen. Egoistische Verhaltensweisen starben somit aus.“ Als zweites Element wäre das Prinzip des Handicaps zu nennen. Allein schon der Akt sichtbaren Gebens erhöht die Chancen der Fortpflanzung des Einzelnen. Eyal Winter ist Professor für Ökonomie und Leiter des Zentrums für Rationalität an der Hebräischen Universität von Jerusalem.
Die Religion schafft einen sozialen Zusammenhalt
Das dritte Element bildet die Tatsache, dass in genetisch homogenen Umfeldern großzügiges Verhalten gegenüber anderen dazu dient, die Gene der Altruisten weiterzugeben. Das Modell der Gruppenselektion bietet eine einfache, direkte und schlüssige Erklärung dafür, warum selbstloses Verhalten in der Evolution Bestand hat. Diesem Modell zufolge wirken Mutation und Selektion auf der Ebene der Gruppe, im Gegensatz zur individuellen Ebene. Gruppen, die gegenseitiger Unterstützung keinen moralischen Wert beimessen, sterben schneller aus als konkurrierende Gruppen.
Eyal Winter gibt jedoch zu beachten, dass das Prinzip der Selbstlosigkeit auch auf der Ebene der Gruppe gewisse Grenzen einhalten muss, um sich vorteilhaft auszuwirken. Der Religion kommt in der Geschichte der Menschheit auch deshalb eine so große Bedeutung zu, weil sie einen sozialen Zusammenhalt schafft, der ihren Anhängern als Kollektiv zugutekommt. Die Zehn Gebote sind ein treffendes Beispiel für dieses Prinzip. Es ist kein Zufall, dass fast der gesamte Inhalt der Zehn Gebote in aller Welt in Form von religiösen und sozialen Verhaltensregeln übernommen wurde.
Die ersten drei Gebote haben Vorrang vor allen anderen Gesetzen
Eyal Winter erklärt: „Im Kern beruhen die Zehn Gebote auf drei verschiedenen Mechanismen: Erstens sichern sie die physische Existenz der Gruppe und deren Zusammenhalt; zweitens fördern sie die Fortpflanzung; und drittens halten sie den Einzelnen davon ab, die Gruppe zu verlassen.“ Die ersten drei Gebote sollen den Vorrang dieses Moralkodex vor allen anderen Gesetzen garantieren. Gemeinschaften, die ihren Kodex ernster nehmen, befolgen diesen umso eifriger und haben somit bessere Aussichten fortzubestehen.
Die übrigen sieben Gebote begründen einen Gesellschaftsvertrag durch das Verbot von Diebstahl, Ehebruch und Mord sowie ein Anhalten zu wechselseitig zuträglichen Beziehungen zwischen Familienmitgliedern und Nachbarn. Es ist augenscheinlich, wie wichtig viele dieser Gebote für die Wohlergehen einer Gemeinschaft sind. So spielt beispielsweise das dritte Gebot „Du sollst den Feiertag heiligen“, eine große Rolle für den Zusammenhalt der Gruppe. Der religiöse Feiertag dient der Ruhe; der Einzelne soll nicht eigene Interessen verfolgen, sondern sich der Gemeinschaft widmen. Quelle: „Kluge Gefühle“ von Eyal Winter
Von Hans Klumbies