Die Weisheit wird von der Gesellschaft zu wenig geschätzt

Die Psychologie ist eine relativ junge Wissenschaft, die sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts als eigenständige Disziplin aus der Philosophie sowie der Medizin und Biologie entwickelt hat. Interessanterweise hat sich die Philosophie, die „die Liebe zur Weisheit“ sogar im Namen trägt, selten und in der Neuzeit noch weniger als vorher mit der Weisheit als menschlicher Eigenschaft befasst. Judith Glück erklärt: „Von Anfang an ging es ihr eher darum, weise Gedanken und Ideen zu beschreiben. Auch der Psychologie lag die Beschäftigung mit so komplexen Eigenschaften lange Zeit eher fern; sie befasste sich zunächst vor allem mit Prozessen, die bei allen Menschen gleichartig ablaufen und also bestimmten Regelhaftigkeiten folgen, wie etwa der menschlichen Wahrnehmung.“ Judith Glück ist seit 2007 Professorin für Entwicklungspsychologie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

Schon 1922 wurde die Bedeutung der Jugend überbewertet

Die Entwicklungspsychologie beispielsweise konzentrierte sich auf die Kindheit und Jugend, während deren der Erwerb verschiedener Fähigkeiten bei den meisten Menschen einem relativ einheitlichen Ablauf folgt. Eigenschaften wie Weisheit, die sich erst im Laufe des Erwachsenenalters entwickeln und noch dazu nur bei manchen Menschen, standen langen Zeit nicht im Vordergrund. Überdies interessierten sich nur wenige Forscher für Entwicklungsprozesse, die mit dem Altern in Verbindung gebracht werden.

Einer der ersten war G. Stanley Hall, der sich vor allem mit der Erforschung des Jugendalters beschäftigte, aber 1922 mit 76 Jahren ein Buch über das Altern verfasste. Dabei setzte er sich auch intensiv mit seinen eigenen Erfahrungen in dieser Lebensphase auseinander und argumentierte, dass aufgrund der vorherrschenden Überbewertung der Jugend die Qualitäten des Alterns, vor allem die Weisheit, von der Gesellschaft zu wenig geschätzt und wichtige Potentiale älterer Menschen missachtet würden.

Unbewusste Prozesse kann man nicht mit Fragebögen erfassen

G. Stanley Hall meinte, dass es vielen Menschen im Alter gelinge, eine gelassenere und weniger selbstbezogene Perspektive einzunehmen und dadurch größere Zusammenhänge und deren moralisch-ethische Bedeutung besser zu erkennen. Etwa ab den 1950er Jahren konzentrierte sich die Psychologie dann sehr stark auf die Messung und Quantifizierung menschlicher Eigenschaften und Verhaltensweisen: Dabei wurde es immer wichtiger, die untersuchten Eigenschaften und Verhaltensweisen in Zahlen ausdrücken zu können.

Die Methoden zur Messung und statistischen Auswertung wurden stark verfeinert, was die wissenschaftliche Fundierung der psychologischen Begriffe, mit denen man heute arbeitet, zweifellos vorangetrieben hat. Aber nun wagte man sich an komplexe Eigenschaften wie die Weisheit, die sich kaum präzise definieren und noch weniger leicht messen und in Zahlen ausdrücken lassen, natürlich erst recht nicht heran. Ausnahmen fanden sich am ehesten im Umfeld der Psychoanalyse, die sich den Forderungen nach Quantifizierung und Statistik oft mit dem Argument entzog, dass man unbewusste Prozesse schließlich nicht mit Fragebögen erfassen könne. Quelle: „Weisheit“ von Judith Glück

Von Hans Klumbies