Die Moderne scheint von negativen Beziehungen bestimmt zu sein

Für die Zeit vom 16. bis zum 20. Jahrhundert konstatieren die Soziologen der Moderne die Ausbreitung der Kultivierung neuer Beziehungsformen auf alle gesellschaftlichen Gruppen. Dazu zählen, Eva Illouz nennt nur einige, die Liebesheirat, die selbstlose oder uneigennützige Freundschaft, das mitfühlende Verhältnis zum Fremden und die nationale Solidarität. Alle diese Formen können ihrer Meinung nach gleichermaßen als neue soziale Verhältnisse, neue Institutionen und neue Gefühle bezeichnet werden. Gemeinsam ist ihnen, dass sie durchweg auf einer Wahl beruhen. In der frühen Neuzeit wurde somit die Freiheit zu wählen institutionalisiert, wobei die Individuen ihre Freiheit in der Verfeinerung der Praxis des Wählens erfuhren, die als eine emotionale erlebt wurde. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem sowie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.

Die modernen Bindungen sind oft von Hedonismus geprägt

Die Bande der „Freundschaft“, der „romantischen Liebe“ und der „Ehe“, aber auch die „Scheidung“ waren eigenständige, klar umrissene soziale Formen, die spezifische Gefühle und Namen für diese Gefühle enthielten. Die Soziologie studierte sie als genau bestimmbare, relativ stabile empirische Beziehungen mit phänomenologisch beschreibbaren Eigenschaften. Im Unterschied dazu scheint die hyperkonnektive Moderne vor der Herausbildung gleichsam stellvertretender oder negativer Bindungen bestimmt zu sein.

Eva Illouz nennt Beispiele: „One-Night-Stand, Spontanfick, Abschleppen, Seitensprung, Fickbeziehung, Freundschaft Plus (friends with benefits), Gelegenheitssex, Casual Dating und Cybersex.“ Das sind nur einige der Bezeichnungen für Verhältnisse, die definitionsgemäß kurzlebig sind und ohne oder mit nur geringer Beteiligung des Selbst auskommen. Sie sind oft gefühllos und von selbstzweckhaftem Hedonismus geprägt und haben den Geschlechtsakt als vornehmliches oder einziges Ziel. In der vernetzten Moderne wir die Nichtherausbildung von Bindungen zu einem sozilogischen Phänomen an sich, zu einer eigenständigen sozialen und epistemischen Kategorie.

Heute kann jeder zu einem beliebigen Zeitpunkt aus einer Beziehung aussteigen

War die Früh- und Hochmoderne geprägt durch den Kampf um bestimmte Formen der Sozialität, in denen Liebe, Freundschaft und Sexualität von moralischen und gesellschaftlichen Einschränkungen befreit wären, scheinen sich die Gefühlserlebnisse in der vernetzten Moderne den Bezeichnungen von Gefühlen und Verhältnissen zu entziehen, die aus Zeiten mit stabileren Beziehungen gerbt worden sind. Die zeitgenössischen Beziehungen gehen zu Ende, in die Brüche, verlieren ihren Reiz oder ihren Sinn und folgen einer Dynamik der positiven und negativen Wahl, die Bindungen und Nichtbindungen miteinander verschränkt.

Kämpften die Akteure während der Entstehung der Moderne für ihr Recht, eine von Beschränkungen der Gemeinschaft oder Gesellschaft unbehinderte Sexualität zu leben, so betrachten sie es in der zeitgenössischen Moderne als selbstverständlich, dass die Sexualität eine Wahlmöglichkeit und ein Recht von unstrittiger und unbestreitbarer Geltung ist. Man übt seine Freiheit ohne Unterlass durch das Recht aus, sich nicht zu binden oder aus Beziehungen zu lösen, einen Prozess, den Eva Illouz als „Wahl der Nichtwahl“ bezeichnet: in jedem beliebigen Stadium aus einer Beziehung aussteigen zu können. Quelle: „Warum Liebe endet“ von Eva Illouz

Von Hans Klumbies