Ungewissheit zählt zur Grunderfahrung des Menschen

Sehr viele Menschen leben heute in Gesellschaften, in denen sich Veränderung mit einer so hohen Geschwindigkeit vollziehen, dass sie den Überblick zu verlieren drohen. Frühere Gesellschaften boten ihren Mitgliedern bei allen stürmischen Entwicklungen und Zumutungen immer noch einen relativ stabilen Orientierungs- und Entfaltungsrahmen, der für Überblick, Strukturierung, Klarheit, Abschätzbar- und Überschaubarkeit der individuellen Lebensführung einigermaßen Sorge trug. Ernst-Dieter Lantermann erklärt: „Diese Lebensgewissheiten kann eine moderne Gesellschaft nicht mehr leisten. Ungewissheit und Unsicherheit sind zu Grunderfahrungen von uns allen geworden, ob wir dies nun gutheißen oder nicht.“ Der Historiker Heinrich August Winkler spricht von einem „Zeitalter der allgemeinen Verunsicherung“, der Philosoph Zygmunt Baumann von einer „fluiden“ Gesellschaft, in der alles im Fluss sei und keine Stabilitäten mehr Geltung hätten. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.

Deutschland erschien viele Jahre als eine Insel der geordneten Verhältnisse

Ernst-Dieter Lantermann erläutert: „Es sind die extreme Undurchsichtigkeit und Unvorhersehbarkeit, die dichte Vernetzung aller Strukturen und Entwicklungslinien moderner, komplexer Gesellschaften, die unsere Handlungen, Entscheidungen, Hoffnungen und Befürchtungen zu Orten hoher Ungewissheiten und Unsicherheiten werden lassen.“ Unter der Ägide von Bundeskanzlerin Angela Merkel der vergangenen Jahre erschien Deutschland viele Menschen dennoch als eine Insel der geordneten Verhältnisse.

Die Katastrophen dieser Welt drangen nur als Nachrichten von fernen Ereignissen nach Deutschland. Wenn die Medien in ihrer Berichterstattung aufrüttelnde Bilder von Bürger- und Religionskriegen, von Hunger und Gewaltexzessen zeigten, konnten die Deutschen sich ängstigen, sich über schreiende Ungerechtigkeiten empören und Solidarität oder Abscheu empfinden. Ernst-Dieter Lantermann fügt hinzu: „Aber im Großen und Ganzen gestaltete sich unser Verhältnis zum Rest der Welt als eine sentimentale Beziehung.“

Über 70 Prozent der Deutschen fürchten sich vor einem Terroranschlag

Denn bei allen Erschütterungen, allem Entsetzen, aller Anteilnahme an den Geschehnissen der Welt da draußen hofften viele Deutsche insgeheim, dass diese sie nicht wirklich etwas angingen. Diese Ära ist fürs Erste vorbei. Nach einer Allensbach-Umfrage im Januar 2016 ist der Anteil der deutschen Bevölkerung, der sich große Sorgen vor zunehmender Gewalt und Kriminalität macht, innerhalb eines halben Jahres um 20 Prozent gestiegen. Die Autoren der Studie sehen den sprunghaften Anstieg als unmittelbare Reaktion auf die körperlichen Übergriffe von Marokkanern und anderen vermeintlich arabischen jungen Männern in der Kölner Silvesternacht.

Über 70 Prozent der Bevölkerung fürchten sich Anfang 2016 vor einem Terroranschlag in Deutschland und machen sich große Sorgen darüber, dass immer noch mehr Flüchtlinge ins Land kommen. Ernst-Dieter Lantermann ergänzt: „Sie sehen sich in ihren Befürchtungen auch deshalb bestätigt, weil die islamistisch motivierten oder ummantelten Gewalttaten sich extrem häufen und immer näher rücken.“ In Deutschland passierten solche Anschläge in Würzburg, München und Ansbach. Quelle: „Die radikalisierte Gesellschaft“ von Ernst-Dieter Lantermann

Von Hans Klumbies