Deutschland war im Mittelalter in allen Bereichen unterentwickelt

Germanien, die Bezeichnung der einstigen römischen Provinz, ist zu Beginn des Mittelalters in seiner politischen und kulturellen Entwicklung weit zurück und befindet sich auf dem Niveau von heidnischen Stammesfürstentümern. Dieses Germanien it zu diesem Zeitpunkt noch nicht in die Geschichte des zukünftigen Heiligen Römischen Reichs eingetreten. Dieses setzt als bestimmende politische und kulturelle Großformation, als Nachfolge des antiken Römischen Reichs, unter Karl dem Großen ein. Und wird anschließend in zahlreichen Auseinandersetzungen der kirchlichen, der weltlichen, der territorialen Mächte und des Kaisertums im Verlauf des 15. Und 16. Jahrhunderts zu einer auf das deutsche Reichsvolk bezogenen imperialen Institution. Es zerbricht schließlich 1806 im Kampf gegen den französischen Kaiser Napoléon, den selbsternannten Neuordner Europas. Begrifflich unterscheiden die ersten europäischen – niederländischen – Humanisten des 14. Und 15. Jahrhunderts die Antike, das Mittelalter und ihre gegenwärtige Neuzeit in Bezug auf Literatur, Philosophie und Sprache.

Im Mittelalter herrschte der dynastische Feudalismus

Räumlich fußt das Mittelalter nur zum Teil auf dem Schauplatz der griechischen und römischen Antike. Geographisch sind dies die Länder der Königreiche England, Irland, Schottland, Wales, Frankreich, Kastilien, Portugal, Aragonien, Polen, Ungarn, Thessalonike, das römische (fränkische) Reich mit den deutschen Ländern in der Mitte, die russischen Fürstentümer, das Reich der islamischen Almoraviden (bis nach Spanien reichend), das Reich der Fatimiden (Nordafrika) und das byzantinische Reich Rum (mit Damaskus und Jerusalem).

Nach Norden und Westen offen, gilt das Mittelmeer südlich als Grenze gegenüber den in Spanien eingedrungenen Arabern. Die zugehörige politische Formation des Mittelalters ist die des dynastischen Feudalismus. In seinen zeitlichen Grenzen bewegt sich das Mittelalter zwischen der konstantinischen Wende 313, der Zeit der Völkerwanderung, der christlichen Missionsbewegung, den eindrucksvollen profanen und sakralen Bauwerken der Romantik und Gotik, der Entstehung eines ständisch organisierten Stadtbürgertums, der bis heute sichtbaren Stadtentwicklung und dem Thesenanschlag Martin Luthers 1517 und der Entdeckung Amerikas 1492 als äußerlichen historischen Daten.

Die europäische Universalsprache war Mittellatein

Grenzerfahrungen im modernen Sinn wurden in diesem auf Freizügigkeit angelegten Europa nicht gemacht. Wahrnehmbaren Grenzen, Erfahrungen des Fremden, Neuen und Ungewohnten in der Hauptsache, entstanden im Inneren der Länder und Regionen, bildeten Lebens- und Sprachgewohnheiten, das Alltägliche, Ess- und Trinkgewohnheiten. Das Angebot der Lebensmittel orientierte sich an den Jahreszeiten und dem christlichen Kalender. Wer im Mittelalter einen Dialekt sprach, äußerte sich auf regionalem Hintergrund, sprach fremd und war für andere schlecht verständlich.

Eine assimilierende neuhochdeutsche Schriftsprache, die auch Alltagssprache war, existierte als grundlegendes Verständigungsmittel bis in das 16. Jahrhundert hinein nicht. Die Universalsprache, die europaweit verstanden wurde, war das Mittellateinische. Aber nicht einmal die Spitzen der politischen und administrativen Nomenklatur beherrschten diese Sprache. Ganz im Gegenteil, sie waren überwiegend zu den Analphabeten zu zählen. Nur die äußerst dünne Schicht der städtischen und geistlichen Gelehrten sprach Mittellatein. Quelle: „Deutsche Literaturgeschichte“. Erschienen im Verlag J. B. Metzler

Von Hans Klumbies