Der radikal kritische Denker Ernst Tugendhat

Ernst Tugendhats Vorlesungen zur „Einführung in die sprachanalytische Philosophie“ von 1976 waren ein fundamentaler und wichtiger Einschnitt in die Geschichte der deutschen Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg. Ernst Tugendhat führte seinen Studenten vor, dass die analytische Philosophie über wirkungsvolle Instrumente verfügt, die in die Irre führende Vergegenständlichung von Bedeutungen zu berichtigen. Als philosophische Bedeutungs- und Wahrheitstheorie war sie außerdem in der Lage, die Wissenschaft vom Sein des Seienden, die Ontologie, die auf Aristoteles zurückgeht, kritisch fortzuführen.

Kritik am deutschen Idealismus

Ernst Tugendhat stellte fest, dass die sprachanalytische Philosophie, einen versteckten hermeneutischen Charakter besitzt. Das Arsenal der symbolischen Logik ermöglichte der analytischen Philosophie, diejenigen Regeln und Strukturen zu verstehen, die der Sprache des Menschen Sinn und Bedeutung verleihen. Indem der Philosoph reflektiert, wie Behauptungen verstanden werden, trägt die linguistisch gewendete Philosophie der Tatsache Rechnung, dass das Denken, Handeln und Wissen sprachlich vermittelt ist.

1979 startete Ernst Tugendhat eine zweite Vorlesungsreihe mit dem Titel: „Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung“. In seinen Vorträgen äußerte der Philosoph eine scharfe Kritik an den Paradoxien des deutschen Idealismus, der sich heillos verzettelt hatte, bei dem Versuch, die Natur eines Erkenntnis- und Handlungssubjekts aufzuklären.

Ernst Tugendhats Vorlesungen über Ethik

Danach wandte sich Ernst Tugendhat immer mehr der praktischen Philosophie zu. Die Summe seiner Erkenntnisse über den objektiven Sinn moralischer Urteile und die Begründung einer Moral gleicher Achtung lieferte er 1993 in seinen „Vorlesungen über Ethik“. Immer blieb Ernst Tugendhat der sprachanalytischen Methode verbunden, egal ob er sich mit Normen, Werten oder Tugenden auseinandersetzte. Allerdings veränderte der radikale Philosoph seine Grundauffassung von Philosophie.

Ernst Tugendhat hatte erkannt, dass es keinen einheitlichen Sinn gibt, der alle Verwendungsweisen des Worts „sein“ umfasst. Deshalb wandte er sich von der sprachanalytischen Rekonstruktion der Ontologie ab und kam zu dem Schluss, die Philosophie als Anthropologie zu bestimmen. Philosophisch ist diese Anthropologie laut Ernst Tugendhat, weil sie die Natur vernünftiger Tiere thematisiert.

Endgültige Antworten sind schwer zu finden

Wer Stellung nehmen will, muss Überlegungen anstellen. Ernst Tugendhat geht davon aus, dass sich jede Überlegung auf Gründe stützt, selbst wenn sie einen heftigen Wunsch oder eine lieb gewonnene Überzeugung betrifft. Die Ermittlung und Abwägung solcher bestimmt Ernst Tugendhat als Rationalität. Lebewesen mit Sprachkompetenz sind, in dieser Definition von Vernünftigkeit, rationale Tiere. Sie rechtfertigen ihr Handeln, Fühlen, Wollen und Erkennen in der Gestalt von Gründen.

Nach den Erkenntnissen von Ernst Tugendhat bilden die Vernunft, die Sprache und die Freiheit, ein aufeinander weisendes Gebilde, wenn jenes auch schwer begrifflich zu entschlüsseln ist. Für Ernst Tugendhat ist es die Aufgabe der postmetaphysischen Philosophie, diese Natur der vernünftigen Tiere aufzuklären. Ernst Tugendhat, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag gefeiert hat, wird weiter nach endgültigen Antworten suchen, auch wenn er manchmal zugegeben hat, Fragen, die ihn beschäftigen, nicht lösen zu können.

Von Hans Klumbies