Der Mensch soll sich seines Verstandes bedienen

Laut Immanuel Kant war das wichtigste Ziel der Aufklärung „(…) der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Der Philosoph fordert die Menschen auf, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Immanuel Kants Leitgedanke ist für Paul Verhaeghe klar: „Denke selbst und werde ein freier Mensch.“ Die Aufklärung stellt Vernunft, als einzigartige Eigenschaft des Menschen, in den Vordergrund. Vernunft steckt also in jedem, also kann jeder Mensch aufgrund seines rationalen Vermögens allgemein akzeptierte Prinzipien entdecken, um sein Leben richtig zu führen. Allgemein akzeptiert, also nicht mehr durch eine höhere Macht oder ihre Verkörperung auferlegt. Paul Verhaeghe vermutet, dass die Mehrheit der Menschen diesen Gedanken schon einmal hegte. Ein Problem gibt es dabei allerdings: Niemand kann mit Sicherheit sagen, was Vernunft nun genau beinhaltet. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.

Immanuel Kant zeigt zwei Quellen der Autorität auf

Zum anderen zeigt jeder Versuch, universelle moralische Regeln zu formulieren, vor allem die Beschränktheit der Regeln und die Notwendigkeit, sie in einen Kontext zu setzen. Immanuel Kant zeigt mit seiner Auffassung über die Zielsetzung der Aufklärung zwei Quellen der Autorität auf. Paul Verhaeghe erklärt: „Autorität kommt entweder aus dem autonomen Individuum selbst, das sich aufgrund der Vernunft freiwillig dem Gemeinwohl unterwirft. Oder sie kommt von einer zwingenden höheren Instanz, der sich das unmündige Individuum unterwirft.“

Beide Möglichkeiten lassen allerdings laut Paul Verhaeghe eine ganz pragmatische Frage außer Acht: Auf welche Weise wird Autorität in der konkreten Wirklichkeit eingesetzt, wo kommt sie eigentlich her, wo liegt ihr Ursprung. Der moderne Staat strebt nach Gerechtigkeit und Redlichkeit. Doch wann und wie beginnt der moderne Rechtsstaat? Die Geschichte lehrt, dass dieser Beginn beinahe immer mit Gewalt verknüpft ist; Gewalt ist offenbar eine so gut wie unvermeidliche Methode, eine unrechtmäßige Regierung zu stürzen.

Für Immanuel Kant ist Gewalt fast niemals gerchtfertigt

Von einem juristischen Standpunkt aus ist es wichtig zu begreifen, dass diese ursprüngliche Form der Gewalt niemals gesetzlich sein kann, im Gegenteil. Sie wendet sich ja gerade gegen die bestehende Gesetzeslage, und häufig werden offizielle Repräsentanten dieser Rechtsordnung getötet. Dennoch liegt hier der Ursprung der künftigen gesetzlichen Autorität: Eine bestehende Autorität wird gewaltsam zu Fall gebracht und durch eine neue Rechtsordnung ersetzt, die im Nachhinein die ursprüngliche Gewalt rechtfertigt.

Für Immanuel Kant ist Gewalt niemals gerechtfertigt, außer wenn sie dazu dient, einen Rechtsstaat zu errichten. Die Rechtfertigung für Gewalt, die Recht erzeugt, sieht er in dem „natürlichen“ Streben der Menschen nach Freiheit, sie basiert also auf einem Naturgesetz. Beispiele solcher Gewalt gibt es unzählige. Die französischen Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit konnten erst über eine äußerst blutige Revolution eingeführt werden. Die amerikanischen Gründerväter konnten ihr Grundgesetz erst schreiben, nachdem sie sich der kolonialen Rechtsprechung Großbritanniens mit Waffengewalt entledigt hatten. Quelle: „Autorität und Verantwortung“ von Paul Verhaeghe

Von Hans Klumbies