Der deutsche Sozialstaat ist „deaktivierend“

Der Sozialstaat in Deutschland ist bei Weitem nicht so leistungsfähig wie in den nordischen Ländern. Marcel Fratzscher weiß: „Hierzulande sind mehr als doppelt so viele Menschen von Einkommensarmut bedroht wie in Skandinavien. Dies gilt vor allem für Kinder und andere Gruppen wie alleinerziehende Eltern – meist Mütter.“ Der Sozialstaat legt in den nordischen Ländern einen hohen Wert auf Chancengleichheit. So ist die Ungleichheit der Markteinkommen dort sehr viel geringer. In Deutschland sind vor allem die Aufstiegschancen für Menschen aus einkommensschwachen und bildungsfernen Familien ungleich geringer. Der deutsche Sozialstaat ist eher „deaktivierend“. Er versucht, die großen Ungleichheiten am Arbeitsmarkt und im Bildungssystem im Nachhinein durch Umverteilung zu ebnen. Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Das deutsche Rentensystem prägt eine massive Umverteilung von Arm zu Reich

Die Vorsorgesysteme der nordischen Länder garantieren meist auch eine bessere Absicherung, vor allem für Menschen mit geringem Einkommen und wenig Vermögen. In Deutschland benötigen viele Menschen ihr gesamtes monatliches Einkommen, um den Lebensunterhalt ihrer Familie zu bestreiten. Marcel Fratzscher stellt fest: „Der deutsche Sozialstaat ist weit weniger erfolgreich dabei, ihnen eine ausreichende soziale Absicherung zu gewähren.“ Die nordischen Länder nutzen ihren Sozialstaat deutlich besser, um Chancengleichheit und soziale Mobilität zu fördern.

Somit geben sie ihren Bürgern mehr Freiheit in Bezug auf ihre Lebensentscheidungen und Vermögensbildung. Marcel Fratzscher kritisiert: „Unser Rentensystem entwickelt sich immer stärker zu einer massiven Umverteilung von unten nach oben, von Arm zu Reich. Einer der wichtigsten Treiber dieser Ungleichheit liegt in den unterschiedlichen Lebenserwartungen je nach Stellung im Beruf oder Bildungsniveau.“ Schuld ist ein Grundpfeiler der gesetzlichen Rente: das sogenannte Äquivalenzprinzip. Jeder Euro, den ein Arbeitnehmer in die Rentenkasse einzahlt, erzielt den gleichen Anspruch an monatlichen Rentenzahlungen im Alter.

Ganze Berufsgruppen erzielen bei ihre Rente eine „negative Rendite“

Das klingt erst einmal fair: ist es aber nicht. Denn die Lebenserwartung eines Arbeiters ist beim regulären Renteneintritt mehr als fünf Jahre geringer als die eines Beamten. Der Unterschied bei Frauen ist geringer, aber mit drei Jahren immer noch deutlich. Marcel Fratzscher stellt fest: „Dies hat zur Folge, dass das Äquivalenzprinzip eigentlich Augenwischerei und ein Vehikel der Umverteilung ist.“ Hinzu kommt, dass eine starke Korrelation zum Einkommen besteht. Arbeiter haben nicht nur eine deutlich kürzere Lebenserwartung, sondern beziehen geringere Löhne und Einkommen und somit auch niedrigere monatliche Renten.

Das geht so weit, dass einzelne Einkommens- und Berufsgruppen als Ganzes eine „negative Rendite“ bei der gesetzlichen Rentenversicherung erzielen. Marcel Fratzscher erläutert: „Während ihrer Erwerbstätigkeit zahlen sie mehr Euro in die gesetzliche Rente ein, als sie im Alter insgesamt ausbezahlt bekommen.“ Das kann im Einzelschicksal zwar immer mal passieren – für ganze Berufsgruppen sollte es aber nicht gelten. Zudem geht es dabei nicht nur um die Beitragszahlungen, sondern auch um die riesigen steuerlichen Zuschüsse für die gesetzliche Rente. Quelle: „Geld oder Leben“ von Marcel Fratzscher

Von Hans Klumbies