Die Hamburger Gesundheitswissenschaftlerin Ingrid Mühlhauser klagt an: „Patienten erleiden Schaden, weil sie nicht die bestmögliche Behandlung erhalten. Sie bekommen zu viel, zu wenig oder die falsche Therapie. Es ist fatal: Forschungsergebnisse führen in die Irre und dann werden Behandlungswege eingeschlagen, die sich als falsch herausstellen. Im schlimmste Fall werden nutzlose Medikamente eingesetzt oder unnötige Operationen durchgeführt.“ Das Ausmaß des Unsinns in der Medizin ist niederschmetternd: Eine Analyse im Fachmagazin „Lancet“ ergab 2014, dass 85 Prozent der finanziellen Mittel für biomedizinische Forschung Verschwendung sind. Ingrid Mühlhauser beklagt: „Diese Forschung ist wertlos, die Ergebnisse sind nicht nutzbar. Es werden die falschen Forschungsfragen gestellt, die Methodik ist nicht angemessen und die Ergebnisse werden entweder gar nicht oder nur unvollständig publiziert.“ Vertreter der evidenzbasierten Medizin stellen sich dieser Müll-Lawine in der Medizin entgegen und versuchen, in dem Wust von Tausenden Studien die besten Beweise für das zu finden, was Patienten am besten hilft.
In der Medizin herrscht oft Masse statt Klasse vor
Im Jahr 1997 wurde in Freiburg das Deutsche Cochrane-Zentrum gegründet, das Aktivitäten für eine bessere Medizin bündelt. Gerd Antes, Gründungsdirektor des Freiburger Zentrums, kritisiert: „Es ist ein Skandal, dass überhaupt nur 50 Prozent der Studien veröffentlicht werden und die andere Hälfte verschwindet. In der Medizin wird deshalb ein viel zu optimistisches Bild gezeichnet. Es wird nur der Nutzen gezeigt, Nebenwirkungen verschwinden in der Schublade.“ Die Liste der Schadensmeldungen durch schlechte Wissenschaft ist lang.
Auch Wolf-Dieter Ludwig, Chefarzt für Krebsmedizin in Berlin-Buch und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, ist überzeugt, dass in der Medizin oft Masse statt Klasse vorherrscht: „Sogar wenn längst bekannt ist, dass eine Behandlung mehr schadet als nutzt, steht in Kliniken manchmal nicht das Patientenwohl im Vordergrund, sondern Erlösmaximierung und Bonuszahlungen dominieren. Wie sonst ist zu erklären, dass noch immer „Chemotherapie am offenen Grab“ stattfindet.
80 Prozent der Röntgenbilder bei Rückenschmerzen gelten als überflüssig
Einem Drittel der Krebskranken werden auch dann noch Zellgifte verabreicht, wenn Heilung oder Linderung nicht mehr möglich ist. Wolf-Dieter Ludwig betont: „Eine Chemotherapie vier Wochen vor dem Tod gilt als Kunstfehler.“ Der Missstand in der Medizin betrifft nicht nur die klinische Forschung, sondern auch die Grundlagenforschung oder verwandte Fächer wie die Psychologie. Besonders drastische Folgen haben schlechte klinische Studien, schließlich nehmen da Patienten an sinnlosen Untersuchungen oder Therapien teil.
Ingrid Mühlhauser stellt fest: „Es kann Jahre dauern und viele Ressourcen verschlingen, bis die Nutzlosigkeit oder gar der Schaden eines solchen Verfahrens offensichtlich ist.“ Weil die evidenzbasierte Medizin (EbM) noch kein Standard ist, sind Überfluss und Unsinn in der Medizin weiter an der Tagesordnung: 80 Prozent der Röntgenbilder bei Rückenschmerzen gelten als überflüssig, 80 Prozent der Kniespiegelungen und mehr als die Hälfte der Herzkatheter. Zwei Drittel der Patienten mit grippalem Infekt bekommen Antibiotika, obwohl die Mittel gegen Viren nicht helfen. Quelle: Süddeutsche Zeitung
Von Hans Klumbies