Mit jeder Tugend geht ein Laster einher

Augustinus, der lateinische Kirchenlehrer der Spätantike, glaubte nicht daran, dass die Welt feinsäuberlich in die Kräfte des reinen Guten und des reinen Bösen geschieden werden könne. Vielmehr gehe jede Tugend mit einem Laster einher – Selbstvertrauen mit Stolz, Aufrichtigkeit mit Brutalität, Mut mit Leichtsinn und so weiter. Der Ethiker und Theologe Lewis Smedes beschreibt die menschliche Natur der Innenwelt wie folgt: „Unser Seelenleben ist nicht so scharf geschieden wie Tag und Nacht – mit reinem Licht auf der einen Seite und totaler Finsternis auf der anderen. Unsere Seelen sind überwiegend Schattenräume; wir leben an der Grenze, wo unsere dunklen Seiten uns Licht blockieren und einen Schatten auf unsere inneren Plätze werfen. Wir können nicht immer sagen, wo unser Licht endet und unser Schatten beginnt und wo unser Schatten endet und unsere Finsternis beginnt.“

Der Mensch kann die Welt durch seinen Gestaltungswillen verändern

Augustinus hing eine Zeit seines Lebens zwischen zwei Welten. Er wollte ein Leben in Wahrhaftigkeit. Aber er war nicht bereit, dafür auf seine Karriere, auf Sex oder weltliche Interessen zu verzichten. David Brooks, Kolumnist und Kommentator bei der New York Times, erklärt: „Er besann sich auf die Grundüberzeugung zurück, die von jeher die Basis seines ehrgeizigen, von Leistungsstreben geprägten Lebens war: das wir unser Schicksal weitgehend selbst in der Hand haben.“ Dass der Mensch die Welt durch seinen Gestaltungswillen verändern kann.

Wenn ein Mensch ein besseres Leben führen will, muss er einfach härter arbeiten, mehr Willenskraft aufwenden oder bessere Entscheidungen treffen. Dies deckt sich mehr und minder mit der Strategie, mit der viele Menschen heute ihr Leben neu gestalten beziehungsweise optimieren wollen. Sie packen diese Aufgabe so an, als handele es sich dabei um eine Hausaufgabe oder ein Schulprojekt. Sie versuchen, Abstand zu gewinnen, sie lesen Selbsthilferatgeber oder lernen Techniken zur Stärkung der Selbstkontrolle.

Die Psyche ist ein riesiger und unbekannter Kosmos

Viele Menschen bauen ihre Beziehung zu Gott so auf, als wollten sie einen Doktortitel machen – durch zielstrebige Willensanstrengung, das heißt durch Lektüre, regelmäßigen Gottesdienstbesucht, geistliche Übungen wie etwa regelmäßiges Beten, durch das Erledigen der geistlichen Hausaufgaben. Aber schließlich gelangt Augustinus zu der Überzeugung, dass man sich nicht nach und nach läutern könne. Der entscheidende Fehler, den er bisher begangen hatte, war sein Glaube, er sei seines Glückes Schmied.

Solange man glaubt, man hätte sein Leben selbst in der Hand, entfernt man sich immer weiter von der Wahrheit. David Brooks erläutert: „Der Mensch kann schon deshalb kein gutes Leben führen, weil er nicht die Fähigkeit besitzt sich selbst zu steuern.“ Die Psyche ist ein so riesiger, unbekannter Kosmos, dass sich die Menschen nicht einmal selbst erkennen können. Die menschlichen Emotionen sind so wandelbar und vielschichtig, dass man sein Gefühlsleben nicht aus eigener Kraft ordnen kann. Die menschlichen Begierden sind so grenzenlos, dass man sich nicht selbst befriedigen kann. Quelle: „Charakter“ von David Brooks

Von Hans Klumbies