Ai Weiwei präsentiert Glaskunst in Venedig

Der weltberühmte Künstler Ai Weiwei macht in Glas. Gemeinsam mit der venezianischen Manufaktur Berengo Studios hat er unter anderem einen mattschwarzen Luster geschaffen. Dieser hängt in der Kirche San Giorgio am Canal Grande. Es handelt sich dabei um ein zweieinhalb Tonnen schweres Stück aus sandgestrahlten Glasknochen und Totenschädeln. Anlässlich der Ausstellungseröffnung traf die österreichische Zeitung „KURIER“ den kontroversiellen Künstler zum Interview. In den vergangen drei Jahrzehnten ist der westliche Hyper-Individualismus aufgeblüht. Dazu stellt Ai Weiwei fest: „Ich unterstütze die Rechte des Individuums. Gleichzeitig muss ich sagen: Wir haben heutzutage 100 Millionen Flüchtlinge. Es gibt dramatischen Wandel in der Umwelt.“ Ai Weiwei eckte mit seiner Kunst stets am chinesischen Regime an. Er wurde inhaftiert und durfte bis 2015 nicht ausreisen. Danach verließ er das Land, hat aber seinen Pass behalten.

Freiheit ist nicht selbstverständlich

Auf die Frage, ob der Westen eine verdrehte Vorstellung von individueller Freiheit hat, antwortet Ai Weiwei: „Es ist fragwürdig, selbst im Komfort zu leben, aber zu ignorieren, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist. Es gibt sehr viel Ungerechtigkeit, und sehr viele Menschen haben Schwierigkeiten, überhaupt zu überleben.“ Ai Weiwei vertritt zudem die These, dass man Freiheit jedenfalls nicht als selbstverständlich ansehen darf. Man muss seiner Meinung nach zu grundlegendem zurückkehren, etwa zu echter Redefreiheit.

KURIER fragt: „Wie kann man da ein echtes Individuum sein?“ Ai Weiwei antwortet: „Individualität bedeutet, einen Charakter zu finden und sich damit selbst zu definieren. Wenn ich die jungen Leute heute sehe: Es gibt weder Kritik, Selbstkritik oder den Willen sich anzustrengen. Und da rede ich noch nicht einmal davon, Opfer zu bringen.“ Freiheit ist scheinbar ein Wert, den man hochhält, aber keiner strengt sich dafür an. Global scheint sich die Menschheit wieder in einem unerwarteten Konflikt der Werte zu bewegen.

„Wir müssen die Menschlichkeit respektieren“

Ai Weiwei kritisiert immer wieder die Heuchelei. Man kann keine echte Konfrontation mehr haben, in der man mit rationalen Argumenten streitet. Stattdessen muss man an eine moralische Haltung irgendeiner Elite denken. Ai Weiwei hält das für gefährlich für die westliche Gesellschaft. Es unterscheidet sich nicht von der Kulturrevolution Chinas. Wenn man eine Ideologie einfordert und die anderen auslöscht, ist die Gesellschaft auf dem Weg zum Faschismus.

Der KURIER fragt: „Was schlagen Sie vor?“ Ai Weiwei antwortet: „Wir müssen die Menschlichkeit respektieren: Man ist mit dem Recht geboren, anders zu sein. Es mag sein, dass ich nicht mag, was Sie sagen, aber ich muss Ihr Recht schützen, es sagen zu können.“ Was ist Cancel Culture eigentlich? Ai Weiwei ist kein Gelehrter, aber seine Definition lautet so: „Urteile zu fällen, die ausschließlich auf den heutigen Werten basieren, ohne sich dafür zu interessieren, was in der Vergangenheit passiert ist und warum. So filtern wir unterschiedliche Ideen weg.“ Quelle: „KURIER“ vom 4. September 2022

Von Hans Klumbies