Kulturen befruchten sich gegenseitig

Milet war eine der reichsten und blühendsten Städte des 6. Jahrhunderts v. Chr., aber sicherlich nicht die einzige. Carlo Rovelli fügt hinzu: „Milet war ein griechischer Außenposten, der den Königreichen des Nahen Ostens am nächsten lag.“ Die Stadt unterhielt enge Verbindungen zu dem prosperierenden Königreich Lydien, das unter anderem eine sehr fortschrittliche Finanzpolitik betrieb. Milet trieb Handel mit der mesopotamischen Welt und besaß einen Handelshafen in Ägypten sowie Kolonien vom Schwarzen Meer bis Marseille. Mit anderen Worten: Milet war die griechische Stadt mit den meisten Verbindungen zum Rest der Welt. Daher wurde die Stadt von den antiken Reichen und ihre Jahrtausende alten Kulturen beeinflusst. Kulturen gedeihen am besten, wenn sie sich mischen und gegenseitig befruchten. Seit dem Jahr 2000 ist Carlo Rovelli Professor für Physik an der Universität Marseille.

Die Schrift erfand man vor rund 4.000 Jahren

Isoliert voneinander verdorren die Kulturen. Die großen Momente kultureller Blüte fallen stets mit intensiven Begegnungen zwischen verschiedenen Kulturen zusammen. Die italienische Renaissance kam in Gang, als Europa mit dem Wissen der arabischen Welt in Kontakt kam. Die große Zahl der alexandrinischen Wissenschaft brach an, als die alte ägyptische Tradition auf die klassische Kultur traf, die Alexander der Große mit nach Alexandria und Babylon brachte.

Die römische Dichtkunst florierte, als sich Rom von der griechischen Zivilisation befruchten ließ. Ungeachtet der ungehobelten und reaktionären Schreihälse, die forderten, die kulturelle „Reinheit“ der nationalen Identität zu bewahren. Diese kulturelle Reinheit wird auch heute nur von den am wenigsten intelligenten Bürgern verlangt, denen die Ankunft von Menschen Angst macht, die anders sind als sie. Die Schrift erfand man rund 4.000 Jahre vor 610 – 546 v. Chr. in Sumer, der Wiege der Zivilisation.

Die Polis war eine neue politische Organisationsform

Die Schrift entstand wahrscheinlich als Ergebnis des Zusammentreffens von Sumerern und den einheimische Akkadern. Carlo Rovelli stellt fest: „Der erste Beleg für geschriebene Sprache ist denn auch zweisprachig, in Sumerisch und Akkadisch.“ Tatsächlich sind unter den ältesten Keilschrifttäfelchen, die man gefunden hat, sumerisch-akkadische Wörterbücher. Belege für die Fruchtbarkeit, die eine Mischung von Kulturen mit sich bringt, gibt es in großer Zahl.

Diese Überlegungen werfen auch Licht auf die wirklich neue politische Organisationsform, die man in der Polis entwickelte. Machtteilhabe in einer Gruppe freier Menschen existierte sicherlich schon lange vor der griechischen Polis. Das Neue daran war das Zusammenkommen dieser Strukturen mit dem kulturellen Reichtum der Mittelmeerregion, gesammelt in den Palästen göttergleicher Könige. Dank der Begegnung mit anderen Völkern lernten die Griechen die Kunst des Schreibens, die systematische Beobachtung des Himmels, die Rudimente der Mathematik und die Architektur großer Tempel kennen. Quelle: „Die Geburt der Wissenschaft“ von Carlo Rovelli

Von Hans Klumbies