Ein System grenzt sich von anderen ab

Der Begriff des „Strafrechtsystem“ ist vieldeutig. Im Gespräch über Strafrecht und Sicherheit verwendet man ihn unterschiedlich, was zu allerlei Missverständnissen führen kann. Die Ebene der „Systemtheorie“ will Thomas Fischer hier nur kurz andeuten. Als abstraktes methodisches Modell ist sie seiner Meinung nach durchaus geeignet, komplexe Sachverhalte zu beschreiben. „System“ in diesem Sinn bedeutet nicht eine unmittelbare oder hierarchische Abhängigkeit von Sinnelementen oder Gliederungspunkten einer Gesamtheit untereinander. Im Alltag jedoch wird das Wort meist so verwendet. „System“ im Sinn der Systemtheorie ist vielmehr der Begriff für einen beliebigen Funktionszusammenhang. Dieser zeichnet sich nur dadurch aus, dass er sich von anderen Zusammenhängen passiv oder aktiv abgrenzt. Insofern ist „Strafrecht“ ein System, weil und wenn es sich von anderen Funktionskreisen abgrenzt, die „nicht“ Strafrecht sind. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

Systeme haben Input und Output

Positiv drückt das Thomas Fischer wie folgt aus: „Strafrecht ist ein System, weil und soweit und solange es Strafrecht ist.“ Das klingt wie Systemtheorie immer, entweder banal oder schrecklich kompliziert, ist es aber bis hierher nicht. Es ist auch nicht banal, denn ein „System“ definiert sich selbst gerade durch seine Grenze. Also: Strafrecht ist deshalb ein Strafrechts-System, weil es nicht ist wie etwa das System der Pädagogik. Das Strafrechtssystem zeichnet sich dadurch aus, dass es Strafrecht vollzieht, Strafrecht definiert, Strafrecht „denkt“ und herstellt.

Was nicht Strafrecht ist, ist „fremd“, außen, ein anderes System. Systeme habe Input und Output. Sie integrieren Bedingungen, Einflüsse, Anregungen, Veranlassungen von außerhalb. Diese definieren und verarbeiten sie nach ihren internen Regeln und geben selbst einen systemspezifischen Output nach außen. Hieraus entsteht auch das Phänomen der sogenannten Selbstreferenzialität. Ein System kann Input regelmäßig nur nach Maßgabe seiner definitorisch notwendigen Binnenstruktur verarbeiten.

Vom System Strafrecht erwartet man manchmal zu viel

Für Einflüsse anderer Art hat das System keine Rezeptoren. Thomas Fischer nennt ein Beispiel: „Leid ist ein Phänomen der Lebenswirklichkeit. Es besteht aus Schmerz, Trauer, individueller Betroffenheit.“ Dieser „Input“ stößt beispielsweise im System „Therapie“ auf Strukturen, die ihm entgegenkommen. Denn sie sind zum Teil darauf ausgerichtet, gerade die Informationen individuellen Leids als solche aufzunehmen. Anschließend erzeugen sie einen Output, der diesem System entspricht. Sehr vereinfacht gesagt: Leid verwandelt sich in Leidminderung.

Im System Strafrecht stößt die einzelne Person dagegen auf Strukturen, die aus „Leid“ von vornherein „Recht“ machen können. Das bedeutet, dass von der hochindividuellen Erfahrung und Lebensgeschichte schon auf der Input-Seite abstrahiert wird. Vom System Strafrecht wird heutzutage erwartet, dass es gleichberechtigt oder zumindest als wichtigen Neben-Output auch „Therapie, Zuwendung, Aufarbeitung“ produziert. Es is ein wenig so, als erwarte man von einer Zahnbehandlung zugleich Seelsorge oder von einer Autoreparatur zugleich Finanzberatung. Quelle: „Über das Strafen“ von Thomas Fischer

Von Hans Klumbies