Der Narzissmus zeichnet sich durch maßlose Ichbezogenheit aus

Eine ganze Reihe Studien belegt, dass narzisstische Persönlichkeitszüge in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen haben. Manfred Spitzer kann sehr gut zur Klärung der Begriffe beitragen: „Unter Narzissmus versteht man die Charaktereigenschaft der maßlosen Ichbezogenheit, die sich in Selbstverliebtheit steigern kann. Die Bezeichnung geht auf den griechischen Mythos vom jungen Narziss zurück, der am eindringlichsten von dem römischen Dichter Ovid (43 v. Chr. – 17 n. Chr. in seinen „Metamorphosen“ überliefert wurde.“ Weil Narziss die Liebe einer Frau nicht erwiderte, wurde der Jüngling mit unstillbarer Selbstliebe bestraft; er starrte unentwegt auf sein Spiegelbild im Wasser und verwandelte sich schließlich in eine schöne Blume – daher der Name „Narzisse“. Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer leitet die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm und das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen.

Der Egozentrismus in der Gesellschaft hat stark zugenommen

Bis heute wird Narzissmus als Charaktereigenschaft in einem kritischen Sinn gebraucht. Man unterscheidet hierbei narzisstische Persönlichkeitszüge, die bei jedem Menschen mehr oder weniger stark vorhanden sind und mit entsprechenden Skalen, sogenannten Persönlichkeitsinventaren, gemessen werden können, von der narzisstischen „Persönlichkeitsstörung“ als einer Diagnose im Bereich der Psychiatrie. Wissenschaftliche Studien belegen, dass jungen Menschen sich heutzutage egoistischer verhalten, ein stärker ausgeprägte materialistische Einstellung haben, eher lügen, sich seltener in einer festen Beziehung leben, mehr Schönheitsoperationen an sich durchführen lassen und eher zu Aggressivität neigen.

Manche Wissenschaftler sprechen mit Bezug auf den zunehmenden Narzissmus daher auch von einer Epidemie: „Dies trifft insbesondere im Lichte der Definition des Wortes Epidemie als Krankheit zu, die eine untypisch große Zahl von Individuen in einer Population betrifft.“ Mittlerweile ist gut belegt, dass Egozentrismus zugenommen und Gemeinschaftsdenken abgenommen hat. Unter „sozialem Kapital“ versteht man Solidarität, Altruismus, Vertrauen, Gemeinschaft, Zusammenhalt und damit letztlich auch den „sozialen Kitt“, der eine Gesellschaft zusammenhält und der Funktionieren überhaupt erst erlaubt.

Das gegenwärtige Erdzeitalter bezeichnet man als Anthropozän

Manfred Spitzer weiß: „Aus medizinischer Sicht ist bekannt, dass die Höhe des vorhandenen sozialen Kapitals der Mitglieder einer Gesellschaft mit einer besseren Gesundheit, einer geringeren Kriminalitätsrate und einem effizienteren Wirtschaften der Menschen einhergeht.“ Die Menschheit als Art ist so erfolgreich, dass der ganze Planet von deren Anwesenheit dominiert wird und bekanntermaßen immer mehr darunter leidet. Es ist also naheliegen, dass man das gegenwärtige Erdzeitalter als Anthropozän bezeichnet.

Der Name ist dadurch entstanden, weil der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist. Tatsächlich hat der Mensch mittlerweile weltweit verbreitete und langlebige Ablagerungen von Materialien hinterlassen, die nur er technisch herstellen konnte, weswegen man sie auch als „Technofossilien“ bezeichnet. Damit sind Spuren gemeint, die man bei Ausgrabungen in ferner Zukunft überall auf der Erde finden würde: Beton, Plastik und elementares Aluminium beispielsweise. Quelle: „Einsamkeit“ von Manfred Spitzer

Von Hans Klumbies