Das kognitive System ist Quelle von Kreativität und Fantasie

Eng verbunden mit dem sogenannten heißen System des Gehirns ist sein kühles System, das kognitiv, komplex, reflektierend und schwerer zu aktivieren ist. Es befindet sich vornehmlich im präfrontalen Kortex. Walter Mischel erklärt: „Dieses kühle, kontrollierte System ist maßgeblich an zukunftsorientierten Entscheidungen beteiligt und hilft bei der Selbstkontrolle, wie man im Marshmallow-Test sehen kann.“ Wichtig ist dabei folgendes: Starker Stress schwächt das kühle, kognitive System und stärkt das heiße System. Beide Systeme wirken ständig und direkt aufeinander ein, stehen also in einer Wechselbeziehung: In dem Maße, wie die Aktivität des einen zunimmt, sinkt die des anderen. Der präfrontale Kortex ist der evolutionär am höchsten entwickelte Bereich des Gehirns. Er ermöglicht und unterstützt die höchsten kognitiven Fähigkeiten, die das spezifisch Menschliche ausmachen. Walter Mischel gehört zu den wichtigsten und einflussreichsten Psychologen der Gegenwart.

Dauerstress kann sogar toxisch wirken

Das kognitive System steuert die Gedanken, Handlungen und Gefühle, ist die Quelle von Kreativität und Fantasie, und es hemmt auch maßgebliche Aktionen, die mit der Verfolgung bestimmter Ziele unvereinbar sind. Walter Mischel erläutert: „Der präfrontale Kortex erlaubt uns, unsere Aufmerksamkeit neu auszurichten und Strategien an sich verändernde Situationen flexibel anzupassen. Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle ist genau dort verankert.“ Das kühle System entwickelt sich langsam und wird in den Vorschul- und den ersten Grundschuljahren allmählich aktiver.

Vollständig ausgereift ist das kognitive System erst mit Anfang zwanzig, sodass das Kind ebenso wie der Jugendliche in hohem Maße den Launen des heißen Systems ausgesetzt bleibt. Das kühle System dagegen ist an die faktischen Aspekte von Reizen angepasst und ermöglicht rationales, reflektiertes und strategisches Verhalten. Wenn Stress von kurzer Dauer ist, kann er adaptiv sein, also ein für die Situation passende Handlung auslösen. Aber Stress kann auch schädlich, sogar toxisch wirken, wenn er intensiv wird und über einen längeren Zeitraum andauert.

Wachsender Stress verengt den Horizont

Andauernder Stress beeinträchtigt die Funktionstüchtigkeit des präfrontalen Kortex, der viele Dinge entscheidend beeinflusst, wie beispielsweise die Highschool und das Studium abzuschließen, länger bei einem Job zu bleiben, Bürointrigen durchzustehen, Depressionen zu vermeiden, Beziehungen aufrechtzuerhalten und keine Entscheidungen zu treffen, die intuitiv richtig zu sein scheinen, sich aber bei näherer Betrachtung als unvernünftig erweisen. Die Neurowissenschaftlerin Amy Arnsten von der Yale University hat herausgefunden, dass „schon ein relativ milder, akuter, aber unkontrollierbarer Stress einen raschen und dramatischen Verlust der präfrontalen kognitiven Fähigkeiten bewirken kann.“

Je länger der Stress anhält, umso stärker werden diese Fähigkeiten beeinträchtigt und umso dauerhafter ist die Schädigung; dies führt letztlich ebenso zu psychischen wie zu körperlichen Erkrankungen. Walter Mischel fügt hinzu: „Folglich steht der Teil des Gehirns, der kreatives Problemlösen ermöglicht, immer weniger zur Verfügung, je dringender wir ihn benötigen.“ Walter Mischel erinnert an Hamlet, dessen Horizont sich mit wachsendem Stress immer stärker verengte. Hamlet litt an quälenden Selbstzweifeln, war wie gelähmt von seinen Grübeleien und wirren Gedanken und unfähig zu entschlossenem Handeln, bis er schließlich Chaos und Verwüstung rund um sich herum anrichtete und seinen Niedergang weiter beschleunigte.

Von Hans Klumbies