Die Vernunft gibt der Welt eine begriffliche Ordnung

Viele Menschen begreifen die Vernunft als die Fähigkeit, den Dingen und Vorgängen in der Welt eine begriffliche Ordnung zu geben. Als Vernunft gilt mit Recht, was den Menschen in die Lage versetzt, systematische Relationen zwischen seinen Einsichten herzustellen. Sie erlauben es ihm, regelgeleitet mit ihnen umzugehen. So kann er beispielsweise Einheiten, Verbindungen und Beziehungen erschließen. Diese erscheinen ihm in der Abfolge vieler Jahre enger miteinander verbunden, weshalb er sie als Epoche bezeichnen kann. Oder er kann die schier unendliche Reihe von gewesenen und kommenden Jahren als „Zeit“ begreifen. Volker Gerhard ergänzt: „Auch >Menschheit< ist ein Vernunftbegriff, ja sogar der Begriff des >Menschen< gehört dazu, wenn wir ihn als Exempel der Menschheit verstehen.“ Volker Gerhardt war bis zu seiner Emeritierung 2014 Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin.

Ohne Vernunft wüsste der Mensch nichts von der Welt

Auf diese Weise verschafft die Vernunft dem Menschen den Begriff der Welt, von dem er ansonsten gar nichts wüsste. Denn der erlaubt es ihm, das Ganze einer Vielfalt von Ganzheiten zu benennen. Dazu kommt die Fähigkeit des Menschen, sogar die Welt noch als Teil einer umfassenden Ganzheit, etwa unter den Titeln des Wirklichen, des Möglichen, des Notwendigen oder des Seins anzunehmen. Außerdem begreift er sich selbst als Individuum und als Person.

Das alles sind Begriffe, die der Mensch seiner Vernunft verdankt, die ihm, zu allem Überfluss, auch noch den Begriff vermittelt, unter dem er sich selbst begreift. Denn auch Vernunft ist ein Vernunftbegriff, den selbst diejenigen verwenden, die sich als unzureichend, überflüssig oder überheblich ansehen. Die begriffliche Ordnungsleistung der Vernunft ist also umfassend und alles durchdringend. Dies wird erst so richtig deutlich, wenn man sich klarmacht, dass sie bereits dem Unscheinbaren eines Augenblicks eine fassliche Form gibt.

Selbst die Vernunft kann sich überschätzen

Darüber hinaus eröffnet die Vernunft der unendlichen Vielfalt kleiner und kleinster Einheiten – etwa unter dem Vernunftbegriff des Mikrokosmos – einen denkbaren Raum und Ort und eine abgrenzende Zuordnung. Diese vielfältigen Leistungen der Vernunft werden für sich gesehen kaum in Zweifel gezogen. Gleichwohl gelten sie als einseitig, sobald der Verdacht aufkommt, sie würden andere Fähigkeiten des Menschen in den Schatten stellen. Dadurch lassen sie weniger auffällige Eigenschaften nicht zur Geltung kommen.

Volker Gerhard lässt diesen Einwand nicht gelten: „Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Die Vernunft stellt alles ins Licht ihrer erhellenden Begriffe. Sie kann nur darin fehlen, dass sie die Eigenart des Erfassen verkennt oder sich selbst überschätzt.“ Ihre größte Gefahr besteht also darin, dass sie ihre unverzichtbare begriffliche Leistung verabsolutiert und außer sich nichts gelten lässt. Daher muss die Vernunft sich fragen, wovon sie selbst abhängig ist, worauf sie sich gründet und was – in der Vielfalt möglicher Leistungen – tatsächlich nur ihr möglich ist. Quelle: „Humanität“ von Volker Gerhardt

Von Hans Klumbies