Nie zuvor und nie mehr danach hat sich ein wissenschaftliches Weltbild in so kurzer Zeit und so stark und mit solchen Auswirkungen verändert wie in den 30 Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Ulrich Herbert konkretisiert: „Neben der explosionsartigen Ausdehnung der Industrie war es vor allem die systematische Verbindung von Wissenschaft und Technik, die diese Epoche kennzeichnete.“ Im Bereich der Chemie standen zum Beispiel die großen Synthesen im Vordergrund wie die Indigosynthese von 1880 und die Synthese des Kautschuks von 1909, des Ammoniaks aus Luftstickstoff und Wasserstoff durch Katalysatoren im Jahr 1908. Auf dieser Grundlage wurden die Kunststoffe entwickelt, die in der Industrie und im Alltagsleben nun ihren unaufhaltsamen Siegeszug antraten. Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.
Max Planck entwickelte die Quantentheorie
Zugleich gelangen den Forscher der Durchbruch zur systematischen Pharmazie und damit die Entwicklung der modernen Chemopharmaka. Auch in anderen naturwissenschaftlichen Fächern gab es revolutionäre Entdeckungen. Ulrich Herbert erläutert: „In der Physik waren zunächst die Entfaltung der elektromagnetischen Theorie, die Erschließung der Elektronen, schließlich die Erforschung der Strahlung von großer Bedeutung. Besonders spektakulär war die Entdeckung der X-Strahlen durch Conrad Röntgen, deren Entstehung mit dem bisherigen Theorien nicht erklärbar war.“
Die von Max Planck entwickelte Quantentheorie verwies bereits auf die Grenzen der klassischen Mechanik. Hier haben die Fragen nach dem Aufbau und Zerfall des Atoms ihren Ursprung. Die Jahrhundertwende war auch die Geburtsstunde der Atomphysik. Über die Biologie schreibt Ulrich Herbert folgendes: „Im Bereich der Biologie haben sich schon früh die Theorien Darwins durchgesetzt; naturimmanente und kausale Erklärungsweisen für die Geheimnisse des Lebens verdrängen in ihrem Gefolge Theologie und Metaphysik.“
Die großen Volkskrankheiten wurden besiegt
Die Evolutionstheorie und die Zellforschung mündeten in die neu entstehende Genetik. Verhaltensforschung und Biochemie kamen auf und krempelten die herkömmlichen Vorstellungen vom Leben und vom Menschen völlig um. Ulrich Herbert ergänzt: „Als die sensationellsten Veränderungen jedoch wurden im Publikum die neuen Möglichkeiten der Medizin empfunden, die ja auch die unmittelbarsten Auswirkungen auf das Leben der Zeitgenossen besaßen. Grundlage dieser revolutionären Entwicklung war die Durchsetzung des naturwissenschaftlichen Denkens in der Medizin.“
So wurden zum Beispiel im Bereich der Physiologie und Zellforschung Hormone, Vitamine und Blutgruppen klassifiziert. Durch die Entdeckung der Mikroorganismen konnten nun auch die Verursacher zahlreicher Krankheiten identifiziert und mithilfe Antistoffen erfolgreich bekämpft werden. Ulrich Herbert fügt hinzu: „Mit der Entdeckung der Erreger des Milzbrandes, der Tuberkulose und der Cholera setzte seit den siebziger und achtziger Jahren der Siegeszug gegen die großen Volkskrankheiten ein, später folgten diejenigen der Gonorrhöe, Typhus, Diphtherie, Lungenentzündung und Syphilis.“
Von Hans Klumbies