Mündigkeit ist nichts für Feiglinge

In seinem neuen Buch „Mündig“ gibt Ulf Poschardt provokante Antworten auf die Frage: „Stehen wir vor der Rückkehr des Menschen in seine selbst verschuldete Unmündigkeit?“ Er beschreibt, wie an Mündigkeit erleben und feiern kann. Die Mündigkeit ist ein Begriff aus der Aufklärung. Schon damals war sie nichts für Feiglinge und das gilt heute umso mehr. Der Wohlstand des Westens ist nicht zuletzt eine Rendite der Mündigwerdung vieler seiner Bürger. Die Mündigkeit ist nicht nur eine existenzielle, sondern auch eine intellektuelle Herausforderung. Sie korrespondiert mit ihrem Optimismus mit der Wissenslandschaft und Wissensmenge. Anfang des 21. Jahrhunderts ist die Mündigkeit jedoch aufs Ungenaueste vorausgesetzt, während die Fundamente des Mündigseins still und leise erodieren. Seit 2016 ist Ulf Poschardt Chefredakteur der „Welt-Gruppe“ (Die Welt, Welt am Sonntag, Welt TV).

Das mündigste Kind der Moderne ist Anne Frank

Ulf Poschardt scheibt: „Mündig zu sein, ist ein Wunsch, seit die Neuzeit den Menschen in verträglichen Dosen in die Freiheit entlässt.“ Mündig zu sein, heißt, im Ideal mehr verstanden zu haben, als nötig ist, um sich selbst als Individuum konstant herauszufordern. Mündigmachung ist eine Beschleunigung der eigenen Entwicklungsgeschwindigkeit. Mündigkeit ist auch eine Aggression gegen die Unmündigkeit. Sie ist ein Kampf. Sie ist ein Bürgerkrieg, ein Krieg der Bürger: Mündige gegen Unmündige.

Das mündigste Kind der Moderne ist für Ulf Poschardt das Mädchen Anne Frank. Sie schreibt, aus dem Versteck eines Hinterhauses heraus, einen Entwicklungsroman. Dieser handelt von der Pubertät, dem Feminismus, dem Faschismus und den nicht enden wollenden Glauben des Menschen an sich selbst. Das Erziehungsideal ihres Vaters Otto lautete, dass Kinder sich am besten selbst erziehen sollten. Er hat das mündige Kind in Anne entdeckt und gefördert. Selbst die zehnte Lektüre ihres Tagebuchs begeistert, erschüttert und verstört. Mehr Mündigkeit ist schwer vorstellbar.

Ein mündiges Leben erfordert Anstrengung und Disziplin

Die Demokratie ist die einzige politische Organisationsform, die den mündigen Bürger braucht. Für Theodor W. Adorno war die Forderung nach Mündigkeit in einer Demokratie selbstverständlich. Damit versteht er Politik eben auch als etwas, das nicht Populisten, Sentimentalisten, Panikpredigern und Opportunisten überlassen werden darf. Der Philosoph beschreibt die Demokratie als ein Ergebnis freier Willensbildung: „Soll dabei nicht Unvernunft resultieren, so sind die Fähigkeit und Mut jenes einzelnen, sich seines Verstandes zu bedienen, vorausgesetzt.“

Faulheit und Feigheit sind für den großen Philosophen Immanuel Kant die beiden Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen gerne zeitlebens unmündig bleiben. Darum fällt es anderen so leicht, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Ein mündiges Leben dagegen erfordert Anstrengung und Disziplin. Ulf Poschardt beschließt sein ausgezeichnetes Buch mit folgenden Sätzen: „Das Mündigwerden hört nie auf. Es beginnt in der Wiege und endet im Tod. Alles dazwischen ist mündig einfach besser.“

Mündig
Ulf Poschardt
Verlag: Klett-Cotta
Gebundene Ausgabe: 269 Seiten, Auflage: 2020
ISBN: 978-3-608-98244-2, 20,00 Euro

Von Hans Klumbies

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