Der mündige Intellektuelle verachtet Ideologien. Zumindest solche, die Gefolgschaft erfordern und die Preisgabe der intellektuellen Autonomie zum Wohle eines abgeschlossenen Weltbildes. Dieses kann in der Postmoderne auch gern widersprüchlich und torsohaft daherkommen. Ulf Poschardt fügt hinzu: „Der mündige Intellektuelle hat ein stark dynamisches und performatives Verständnis von Denken und Werk.“ Er versteht sein eigenes Reflexions- und Wissensniveau als Verpflichtung, Verantwortung zu übernehmen. Der mündige Intellektuelle ist dem Ideal des aufgeklärten Diskurses und Debatte verpflichtet. Er will nicht gefallen, sondern sortiert seine Anliegen entlang jener Anliegen, die in den entscheidenden gesellschaftlichen Debatten jeweils zu kurz kommen. Seine Differenziertheit folgt strategischen Überlegungen. Er muss seine eigene Position relativ zum Kurs des Ganzen definieren. Seit 2016 ist Ulf Poschardt Chefredakteur der „Welt-Gruppe“ (Die Welt, Welt am Sonntag, Welt TV).
Selbstpathos ist lächerlich
Der mündige Intellektuelle misstraut sich manchmal selbst, kommt nie bei sich an und ist dabei ganz bei sich. Er hat den kartesianischen Zweifel zum Lebensprinzip erhoben und versteht nicht, warum es Indifferenz gibt. Wie das geht, zwischen radikalem Zweifel, Sehnsucht nach Autonomie und gleichzeitigem Annehmen gesellschaftlicher Akzeptanz, wird je nach innerer und äußerer Lage justiert. Der mündige Intellektuelle ist neugierig und scheut sich vor Wiederholung, außer wenn es um den Kern der Dinge geht.
Dazu zählen für ihn Freiheit, Demokratie, Fortschritt, Nachhaltigkeit und Tempo. Das Private ist immer privat. Das eigene Leben ist nicht Teil des Debattenzirkus. Der mündige Intellektuelle freut sich, wenn er helfen kann. Selbstpathos ist seiner Meinung nach lächerlich. Denn jeder weiß, dass die Existenz eben auch ein Karneval ist, das Denken eine Clownerie, das Schreiben ein Gezappel. Schon der französische Schriftsteller und Maler Francis Picabia warnte davor, das Andersdenken per se zu verklären. Es sei kein Zeichen von Intelligenz.
Jean-Luc Godard will mündige Konsumenten
Der mündige Intellektuelle schwankt in seinen Niveaus, er geht high und low. Er bleibt flexibel auch in der Art der Ansprache, weil sie selbst rekurrieren kann auf unterschiedliche Epochen der Mündigmachung. Dass Intellektuelle auch mit Mündigkeit spielen können, ist das Verdienst jener unzähligen Vorgänger, die über Jahrhunderte das Prinzip Mündigkeit gegen den Strom gleichgültig unmündiger Denker entwickelt haben. Ulf Poschardt zählt dazu unter anderen Thomas Hobbes, Immanuel Kant und René Descartes.
Jean-Luc Godard ist mit Theodor W. Adorno und Marcel Duchamp für Ulf Poschardt der größte Intellektuelle des 20. Jahrhunderts. Jean-Luc Godard, der ewige Revolutionär, kippt in seinem Spätwerk jede Gewissheit in ein monströses Mahlwerk der Dekonstruktion. Seine Werke aus dem 21. Jahrhundert sind in ihrer Radikalität der symphonischen Zerstückelung und Rekonstruktion nur schwer zu übertreffen. Jean-Luc Godard will als mündiger Intellektueller mündige Konsumenten. Da ist er ganz Kantianer. Quelle: „Mündig“ von Ulf Poschardt
Von Hans Klumbies