Der Gedanke, dass die Moral im einzelnen Menschen selbst begründet liegt, ist deswegen so anziehend, weil sie auf eine Entscheidung oder eine Abwägung von Gütern reduziert wird, die nicht verallgemeinert und daher den Mitmenschen nicht vorgeschrieben werden kann. Das kann aber laut Tony Judt zu dem Problem führen, dass ethische Kategorien von Individuen auf Kollektive übertragen werden. Die meisten Menschen glauben zu wissen, was es bedeutet, wenn sie sagen, dass die Freiheit ein universelles Gut ist, und Meinungsfreiheit, Freizügigkeit und das Selbstbestimmungsrecht unveräußerliche Rechte des Einzelnen sind. Tony Judt fügt hinzu: „Aber seit dem 19. Jahrhundert sind wir von der Freiheit des einzelnen weggekommen und sprechen von den kollektiven Freiheiten, als ob das ein und dasselbe wäre.“ Der britische Historiker Tony Judt lehrte in Cambridge, Oxford und Berkeley. Er starb 2010 in New York.
Die Mitglieder einer Nation wollen an ihre Geschichte glauben
Sobald aber davon gesprochen wird, zum Beispiel ein Volk befreien will, ihm also eine abstrakte Freiheit bringen will, dann passieren ganz andere Dinge. Ein Problem in der westlichen politischen Philosophie seit der Aufklärung ist für Tony Judt dieses Hin und Her zwischen der Ethik von Immanuel Kant und abstrakten politischen Kategorien. Das Problematische an der Analogie zwischen Individuum und Kollektiv zeigt sich besonders deutlich im Fall der Nation.
Tony Judt weist darauf hin, dass man die Vorstellung von der Nation als einem kollektiven Individuum verteidigen könnte, indem man sagt, dass auch das Individuum ein Konstrukt ist, das sich allmählich formt, Erfahrungen sammelt, Vorurteile verfestigt und so weiter. Tony Judt ergänzt: „Das Entscheidende an der Nation ist ja nicht, ob die von ihr behauptete Vergangenheit falsch oder richtig ist, sondern der kollektive Wunsch, diese Geschichten zu glauben – mit allen Konsequenzen.
Die Rechte und Pflichten einer Nation gelten auch für die Individuen
Tony Judt vertritt die These, dass die Menschen das nicht akzeptieren sollten. Es ist seiner Meinung nach besser, sich nationalen Mythen zu widersetzen, selbst um den Preis der Desillusionierung und des Verlustes des Glaubens an die Geschichte der Nation. Tony Judt gibt allerdings zu, dass nationale Narrative und Mythen notwendige und unvermeidliche Nebenprodukte von Nationen sind. Die Menschen müssen also aufpassen, wenn sie zwischen der Existenz von Nationen und den Bildern, die Nationen von sich haben, unterscheiden.
Wenn eine Nation Rechte und Pflichten hat, dann müssen diese laut Tony Judt auch für Individuen gelten. Der britische Historiker schreibt: „Wenn eine Nation das Recht hat, frei zu sein, dann gilt das auch für jeden einzelnen Bürger, es sei denn, der Begriff frei wird in einem ganz anderen Sinn verwendet.“ Der Bürger einer Nation hat bestimme Pflichten, aber ist nicht verantwortlich für die Verhältnisse, zu deren Verbesserung er beitragen möchte. So fühlt sich Tony Judt zum Beispiel nicht schuldig wegen der Sklaverei in den USA, da zu Zeiten des Sklavenhandels seine Vorfahren in einem ärmlichen osteuropäischen Schtetl lebten.
Von Hans Klumbies