Der Staat verliert die Macht über den öffentlichen Raum

Der Zerfall des öffentlichen Sektors hat laut Tony Judt dazu geführt, dass die Menschen immer weniger wissen, was sie mit ihren Mitmenschen verbindet. Politik ist für ihn eine Funktion von Raum, da die Menschen dort wählen, wo sie wohnen und sich die Autorität und die Legitimation von Politikern sich auf das Land beschränken, in dem sie gewählt wurden. Kommunikation in Echtzeit mit Gleichgesinnten auf der anderen Seite des Globus über das Internet ist dafür kein Ersatz. Noch im ausgehenden 19. Jahrhundert war der Staat gemäß Tony Judt einfach ein Apparat, mit dem eine alteingesessene herrschende Klasse die Macht ausübte. Doch Schritt für Schritt übernahm er Aufgaben und Zuständigkeiten, die zuvor in den Händen von Einzelpersonen oder privaten Einrichtungen gelegen hatten.

Öffentliche Aufgaben werden zunehmend privatisiert

Tony Judt nennt einige Beispiele: „An die Stelle privater Ordnungskräfte traten nationale und kommunale Polizeien. Private Postdienste wurden durch staatliche Postverwaltungen ersetzt, Söldnerheere durch nationale Wehrpflichtarmeen.“ Heute beobachtet man die umgekehrte Entwicklung. Die öffentlichen Aufgaben werden, wenn sie die Menschen überhaupt noch als solche wahrnehmen, wieder zunehmend in private Hände gelegt. Beispielsweise sieht sich die Post zunehmend einer privatwirtschaftlichen Konkurrenz ausgesetzt, die sich auf gewinnbringende Geschäftskunden konzentriert.

Selbst Armeen sind hinsichtlich Logistik, Nachschub und Transportsicherheit immer mehr auf die Dienste von Privatfirmen angewiesen. Tony Judt schreibt: „Nach jüngsten Angaben sind in Irak und Afghanistan 190.000 Mitarbeiter von Privatfirmen im Einsatz.“ Einst verkörperte die Polizei die Autorität des modernen Staates. Sie sollte das soziale Miteinander ordnen, bei ihr lag das Gewaltmonopol. Rund 200 Jahre später wird sie durch private Sicherheitsfirmen abgelöst, die unter anderem die Aufgabe haben, eingezäunte Areale der Reichen zu bewachen, deren Zahl in den letzten 30 Jahren stark zugenommen hat.

Gated Communitys sondern sich vom Rest der Gesellschaft ab

Vor dem Aufstieg des modernen Staates waren laut Tony Judt solche Gated Communitys, in denen sich wohlhabende Bürger von der übrigen Gesellschaft abschotteten, allgemein üblich. Mit der Entwicklung der modernen Städte und Nationalstaaten gingen diese befestigten Areale in ihrem städtischen Umfeld auf. Tony Judt erklärt: „Die Bewohner vertrauten dem Schutz der staatlichen Behörden, verzichteten auf ihre privaten Ordnungskräfte, rissen die Mauern nieder und beschränkten sich auf Symbole von Reichtum und Status.“

Noch in den 1960iger Jahren hätten Gated Communitys extrem bizarr gewirkt. Doch inzwischen sind die Statussymbole auf der ganzen Welt vertreten. Sie sind für Tony Judt der Ausdruck des Wunsches, sich vom Rest der Gesellschaft abzusondern und ein sichtbares Zeichen dafür, dass der Staat oder die Kommune nicht mehr imstande oder willens sind, seine Autorität im öffentlichen Raum auszuüben.

Von Hans Klumbies