Die Menschheit ist vom Wachstum besessen

Das Klima wandelt sich. Das Eis schmilzt. Eine Million Arten stehen vor der Auslöschung. Die Menschheit verschiebt das ökologische Gleichgewicht mit völlig unvorhersehbaren Folgen. Manchmal auf eine Art und Weise, die sich als tödlich erwiesen hat. Tim Jackson schreibt im Prolog seines neuen Buchs „Wie wollen wir leben?“: „Der endliche Planet, den wir unsere Heimat nennen, wird durch die massive Ausweitung menschlicher Aktivitäten vielleicht unwiderruflich verändert. Alles unter dem verführerischen Banner des Fortschritts.“ Derzeit ist jedoch „Postwachstum“ scheinbar ein Begriff und eine Gedankenwelt, auf die man noch nicht verzichten kann. Selbst in Zeiten eines Umbruchs ist die Menschheit immer noch vom Wachstum besessen. Tim Jackson ist Direktor des Centre for the Understanding of Sustainable Prosperity. Außerdem lehrt er als Professor für nachhaltige Entwicklung an der University of Surrey (UK).

Der Kapitalismus ist eine zeitbedingte Erscheinung

Unter Postwachstum versteht Tim Jackson eine Form des Nachdenkens darüber, was passieren könnte, wenn es mit dieser Besessenheit vorbei ist. Es lädt die Menschheit ein, neue Horizonte für gesellschaftlichen Fortschritt zu erkunden. Es erlaubt zu verstehen, dass der Kapitalismus selbst nur eine zeitbedingte Erscheinung ist, der nur mit Mühe am Leben erhalten werden kann. „Wie wollen wir leben?“ ist eine Einladung darüber nachzudenken, wie menschlicher Fortschritt aussehen könnte.

Denn endloses Wachstum – ob nun grün oder nicht – kann doch am Ende nur dazu führen, dass es gar kein Wachstum mehr gibt. Auf einem toten Planeten kann nichts wachsen. Ewiges Wachstum führt zu kompletter Zerstörung. Etwas Außergewöhnliches ging vor sich, als Covid-19 fast jedes Land der Erde in längere Lockdowns zwang und einen Großteil der Wirtschaft zu einem abrupten Halt brachte. Plötzlich wurde vielen Menschen klar, welche Aufgaben in der Gesellschaft wirklich wichtig sind. Gesundheitsfürsorge, Versorgung mit Lebensmitteln und grundlegenden Dienstleistungen – das waren die Jobs auf welche die Menschheit nicht verzichten konnte.

Der Kapitalismus ist zum Scheitern verurteilt

Der Kapitalismus ist für Tim Jackson im Grunde eine Ansammlung von Systemfehlern. Er hat das Gleichgewichtsprinzip menschlicher Gesundheit völlig aus den Angeln gehoben, indem er unnachgiebig darauf drängt, dass mehr besser sei. Er hat die Fürsorgearbeit abqualifiziert – indem er den Wert des Gesundheitswesens immer weiter nach unten drückt. Der Kapitalismus hat den Appetit der Verbraucher überstimuliert, indem er skrupellos Unzufriedenheit schürt. Zudem hat er den Verbrauchsfluss von Materialien beschleunigt und dabei die Unversehrtheit der natürlichen Welt gefährlich untergraben.

Der Wunsch der meisten Menschen nach Langlebigkeit treibt sie in einen Rausch des Schaffens. Tim Jackson stellt fest: „Wirtschaftswachstum ist im Grunde die Inkarnation dieses Wahns. Sein Ziel ist nichts Geringeres als Unvergänglichkeit herzustellen.“ In den Händen des Kapitalismus aber ist dieses Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Darum ging es unter anderem in dem Buch „Wie wollen wir leben?“: dieses Scheitern zu begreifen. „Das genug genug ist, das ist Wissen genug“, sagte der chinesische Philosoph Laotse vor zweieinhalbtausend Jahren. Das nicht zu verstehen, ist die fatale Einbildung des Kapitalismus gewesen.

Wie wollen wir leben?
Wege aus dem Wachstumswahnsinn
Tim Jackson
Verlag: Oekom
Gebundene Ausgabe: 303 Seiten, Auflage: 2021
ISBN: 978-3-96238-292-6, 22,00 Euro

Von Hans Klumbies