Für das Strafen und das Strafrecht ist Wahrheit in verschiedener Hinsicht von Bedeutung: als Wahrheit des Geschehens und als Wahrheit von Verantwortung. Dabei ist vor allem auch wichtig, dass diese Wahrheitserkenntnisse in die Vergangenheit gerichtet sind. Thomas Fischer erklärt: „Strafrecht versucht, vergangenes Geschehen zu rekonstruieren und einer gegenwärtigen Verantwortung zuzuweisen.“ Dabei ist offensichtlich, dass die Wiederherstellung einer unmittelbaren Wirklichkeit eines Geschehensablaufs niemals im Verhältnis eins zu eins möglich ist. Jedes von menschlichem Handel geprägte Geschehen ist ein sehr komplexer Prozess von Bedingungen, Sinn, Motivation, Ursachen, Deutungen, Zwischen- und Endergebnissen. Schon die unmittelbare, zeitgleiche Aufnahme ist nur mit großen Abweichungen und Verständnisrisiken möglich. Die Gehirne von Menschen funktionieren nicht wie standardisierte digitale Maschinen, die miteinander über ein eindeutiges „Programm“ verbunden werden könnten. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.
Jede Erinnerung ist ein kreative Rekonstruktion
Noch komplizierter wird es, wenn es um die Rekonstruktion von vergangenen Geschehen geht. Jeder kennt das Phänomen, dass, wenn drei verschiedene Menschen den Hergang eines Geschehens beobachten, dabei jeweils drei ziemlich verschiedene Schilderungen herauskommen. Die Abweichungen betreffen nicht stets allein Nebensächlichkeiten, sondern können sich auf zentral wichtige Faktoren beziehen. Solche Unterschiedlichkeiten treten nicht allein beim Abgleich der Erinnerungen verschiedener Menschen auf, sondern sind auch Teil der jeweils individuellen Erinnerung.
Denn jede Erinnerung ist nicht ein bloßes „Wiederaufrufen“ eines abgespeicherten Dokuments oder Bildes. Sondern sie ist auch eine kreative Rekonstruktion auf der Basis des jeweils aktuellen Gefühls- und Wissenstands. Es ist, wie wissenschaftliche Experimente gezeigt haben, ohne Weiteres möglich, in Personen „Erinnerungen“ an Ereignisse und eigene Handlungen zu erzeugen, die definitiv nicht stattgefunden haben. Und in ihnen sogar die zu solchen Scheinerinnerungen passenden Emotionen wie Schuldgefühl, Scham oder Freude zu provozieren.
Keine Kommunikation übermittelt neutral Informationen
Anders gesagt: Jedes Mal, wenn ein Mensch Erinnerungen an Vergangenes aufruft, verändert sich die subjektive Vergangenheit ein wenig nach Maßgabe der Gegenwart. Das gilt erst recht, wenn diese Erinnerungen in einem kommunikativen Akt anderen mitgeteilt und von diesen „verstanden“ werden sollen. Das ist jedoch für die Rekonstruktion eines vergangenen Verbrechens unbedingt erforderlich. Es gibt keine Sprache und zwischenmenschliche Kommunikation, die „neutral“ Informationen übermittelt.
Alles, was gesagt und gezeigt wird, wird gedeutet, mit „Sinn“ erfüllt. Es wird eingeordnet in ein Verständniskonzept. Dieses ist einerseits hochindividuell, andererseits von zahlreichen Umgebungsfaktoren beeinflusst, Deren Zusammensetzung und Bedeutung unterscheiden sich jeweils wieder individuell. Aus diesem Grund „verstehen“ sich Menschen aus demselben sozialen Milieu und ähnlichen Lebenserfahrungen durchweg besser als Personen aus unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen. Erinnerung, Darstellung, Vergegenwärtigung, Nacherzählung von Vergangenheit liegt daher eine mehr oder weniger, stets aber relativ kleine Auswahl an unmittelbarer Wirklichkeit zugrunde. Quelle: „Über das Strafen“ von Thomas Fischer
Von Hans Klumbies