Die Welt ist nicht zu hart

Friedrich Nietzsche schreibt in seinem Werk „Ecce Homo“: „Der wohlgeratene Mensch errät Heilmittel gegen Schädigungen. Er nützt schlimme Vorfälle zu seinem Vorteil aus. Was ihn nicht umbringt, macht ihn stärker.“ Dieselbe Widerstandskraft erwartet man auch von seinen Mitbürgern. Denn nur ein resilientes Ich, das an Krisen wächst und sich gegen die Wechselfälle des Lebens zu wappnen weiß, ist im Privat- wie Berufsleben verlässlich und letztlich auch für eine Demokratie unentbehrlich. Svenja Flaßpöhler weiß: „Oder wie sonst ließen sich vernünftige Entscheidungen treffen und harte Debatten führen?“ Wie sonst könnte man zielorientiert in die Zukunft blicken, wenn man bei eigenem oder fremdem Leid sofort in Tränen ausbricht und alles persönlich nimmt? Nein, die Welt ist nicht zu hart. Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des „Philosophie Magazins“.

Der Mensch ist ein verwundbares Mängelwesen

Emmanuel Lévinas ist der Denker der Verletzlichkeit und des unbedingten Anspruchs. Svenja Flaßpöhler erläutert: „Der Mensch ist ihm zufolge ein verwundbares Mängelwesen. Angewiesen auf Liebe, angewiesen auf Fürsorge – und ausgestattet mit einem Recht darauf.“ Wenn ein anderer gegenübertritt, fordert sein „Antlitz“ dazu auf, ihn anzunehmen und ihm kein Leid zuzufügen. Der Mensch ist für Emmanuel Lévinas wesenhaft verletzlich. Genau darin sind alle Individuen gleich und miteinander verbunden.

Wer beleidigt wird, erlebt eine „Niederlage der Identität des Ich“. Diese Fragilität hat eine Existenzberechtigung in sich selbst. Die Sensibilität macht ein Individuum überhaupt erst zu einem Menschen. „Das Subjekt wird zu beschreiben sein als (…) verwundbar, das genau heiß sensibel“, schreibt Emmanuel Lévinas. Anstatt also die Schwäche auszumerzen, muss man sie anerkennen und sich gegenseitig schützen. Solidarität brauchen dabei vor allem jene, die immer noch gesellschaftlich diskriminiert und marginalisiert werden.

Friedrich Nietzsche war hochsensibel

Aus der Wunde erwächst die Kraft. Wer, wenn nicht Friedrich Nietzsche selbst, wäre die Personifikation dieses Satzes gewesen? Svenja Flaßpöhler erklärt: „Friedrich Nietzsche, der geistige Vater des Übermenschen, war zugleich das, was man heute wohl als hochsensibel bezeichnen würde. Seine extreme Empfindlichkeit für Klima und Licht, seine Migräne, seine psychische Labilität waren untrennbar mit seiner Schaffenskraft verbunden.“ Aus Friedrich Nietzsches Wunde erwuchs ein Werk, das sich empfindsamer Beobachtungsgabe verdankt und auch die Verletzlichkeit des Autors zum Ausdruck bringt.

Friedrich Nietzsche schreibt in seiner autobiographischen Schrift „Ecce Homo“: „Man weiß von nichts loszukommen. Man weiß mit nichts fertig zu werden, man weiß nichts zurückgestoßen.“ Friedrich Nietzsche fährt fort: „Mensch und Ding kommen zudringlich nahe. Die Erlebnisse treffen zu tief, die Erinnerung ist eine eiternde Wunde.“ Als „Heilmittel“ in dieser ausweglosen Situation, empfahl der Denker „russischen Fatalismus. Nämlich jenen Fatalismus ohne Revolte, mit dem sich ein russischer Soldat, dem der Feldzug zu hart wird, zuletzt in den Schnee legt“. Quelle: „Sensibel“ von Svenja Flaßpöhler

Von Hans Klumbies