Die Utopie spielt in der politischen Debatte keine Rolle mehr

Richard David Precht konstatiert, dass aus den politischen Debatten in der westlichen Welt die demokratische Utopie weitgehend verschwunden ist. Schon Karl Marx und Friedrich Engels wehrten sich dagegen, dass ihre Prophetie der Geschichte nur eine Utopie sei; sie verbannten das Wort aus ihrem Wortschatz. Und auch heute steht die Utopie gern als albern und weltfremd im Raum, jedenfalls dann, wenn sie sich nicht auf Technik, sondern auf Gesellschaft bezieht – so als hätte das eine mit dem anderen nichts zu tun. Irrlichternde Phänomene wie die Partei der „Piraten“ in Westeuropa haben noch das Ihre dazu beigetragen. Randvoll mit Selbstwidersprüchen und kindlichen Allmachtsfantasien zerstoben sie schneller als sie gekommen waren. Der Philosoph, Publizist und Bestsellerautor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

Visionen stoßen heutzutage auf Abneigung und Gegenwehr

Keine Experimente – es scheint, als sei der alte Adenauer-Slogan der Fünfzigerjahre das Einzige, was den Verteidigern der Demokratie derzeit einfällt. Etwas gespenstig ist das schon. Richard David Precht weiß: „Denn ohne Utopie ist wahrscheinlich auch niemanden geholfen, außer einigen Profiteuren des Status quo.“ Doch das Risiko, auch nur über die mittelfristige Zukunft nachzudenken und dabei vom „Weiter so“ abzuweichen, ist scheinbar gegenwärtig enorm.

Wenn in der alten Bundesrepublik Ludwig Erhard oder Willy Brandt eine Vision von einem zukünftigen Deutschland malte, wurde er gefeiert und gelobt. Wenn heute jemand ein konkrete Vision von einem besseren Deutschland entwirft, dann weiß jeder: Der wird jetzt von den Massenmedien erschossen! Es scheint, als wahrten Politik und Wirtschaft heute das Recht der Utopie, eine Utopie zu bleiben und nichts mit dem Leben der Menschen zu tun zu haben. Doch die Prozesse und Veränderungen sind tatsächlich im Gange, ob man sie nun wahrnimmt oder nicht.

Ideen und Visionen entscheiden über den Fortgang der Menschheitsgeschichte

Gerade der Möglichkeitshorizont der allermeisten Wirtschaftswissenschaftler wird fast immer vom Status quo bestimmt. Etwas anderes haben sie in ihrem Studium auch nicht gelernt, und für Visionäres ist in ihren ungezählten Fachpublikationen kein Raum. So schaffen viele von ihnen das Kunststück, trotz aller gewaltigen Umbrüche seelenruhig davon auszugehen, Arbeit, Beschäftigung und Gesellschaftsstruktur blieben in den nächsten Jahrzehnten weiterhin mit der heutigen Zeit vergleichbar.

Ökonomische Herausforderungen bleiben oft unsichtbar, solange man sie nur als solche betrachtet. Tatsächlich sind alle wesentlichen Fragen der Ökonomie keine ökonomischen allein, sondern auch psychologische, ethische, politische und kulturelle. Richard David Precht erklärt: „Und nicht schwere wirtschaftswissenschaftliche Abhandlungen, gespickt mit Zahlen und Tabellen, entscheiden über den Fortgang der Menschheitsgeschichte, es sind mithin Ideen, Bilder und Visionen, seien sie nun technischer oder gesellschaftlicher Natur.“ In diesem Sinne konnte Oscar Wilde schreiben: „Eine Weltkarte, auf der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient nicht einmal einen flüchtigen Blick, denn ihr fehlt das Land, das die Menschheit sei je ansteuert.“ Quelle: „Jäger, Hirten, Kritiker“ von Richard David Precht

Von Hans Klumbies