Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst

Der soziale Zusammenhalt in Deutschland bröckelt, zumindest wenn man Politikern wie Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier oder dem Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck glaubt. Reimer Gronemeyer kennt die zwei Phänomene, an denen diese Angst vor der Erosion festgemacht wird: „An der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich einerseits und dem Erstarken der rechtsextremen Kräfte andererseits.“ Die Tatsache, dass die Frage danach, was die Gesellschaft im Innersten zusammenhält, sich heute so vehement meldet, ist ein Ausdruck dafür, dass der Zusammenhalt in eine Krise geraten ist. Solange die Frage nicht gestellt wird, funktioniert der Zusammenhalt, scheint er selbstverständlich. Erst wenn da etwas bröckelt, taucht sie auf und wird dann unabweisbar. Reimer Gronemeyer ist seit 1975 Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen, wo er 2018 zum Ehrensenator ernannt wurde.

Unsicherheiten prägen das Leben in Deutschland

Wahrscheinlich hat die lange Geschichte des wachsenden Wohlstands, die Frage nach dem, was die deutsche Gesellschaft zusammenhält, erst gar nicht aufkommen lassen. Der ständig zunehmende Reichtum war mit der beruhigenden und einlullenden Vorstellung verbunden, dass es eines Tages allen Menschen so gute gehe werde wie den Deutschen. Man müsse nur daran arbeiten und geduldig warten. Spätestens die Flüchtlingskrise hat damit aufgeräumt. Dass die Menschen in Afrika in absehbarer auf deutschem Konsumniveau leben könnten – daran glaubt inzwischen niemand mehr.

Reimer Gronemeyer ergänzt: „Ganz abgesehen von der ökologischen Katastrophe, die damit voraussehbar einhergehen würde. Nun aber tauchen Unsicherheiten an allen Ecken und Enden auf: Wie sieht es künftig mit der Altersversorgung aus? Wie mit der Pflegesituation? Was machen Automatisierung und Digitalisierung mit uns, und was wird aus unseren Arbeitsplätzen?“ Die Erosion des mitunter naiven Zukunftsoptimismus schlägt auf die Gesellschaft zurück. Alles scheint fraglich zu werden. Die politische Elite spürt das, und die sogenannten einfachen Leute bemerken das auch.

Viele Politiker kennen die normalen Lebensverhältnisse nicht mehr

Aber viele Politiker haben, eingehüllt in gesicherte finanzielle Verhältnisse und abgefedert durch Privilegien, das Gespür für die verloren, in die unsicheren Arbeitsverhältnissen oder als Abgehängte von Hartz IV leben. Dass es draußen brodelt, bekommen sie nur noch theoretisch mit, bestenfalls über die Papiere ihrer Referenten. Und natürlich über die kontinuierlich steigenden Wahlergebnisse der AfD (Alternative für Deutschland). Das kann man dann nicht mehr ignorieren.

Es herrscht in Deutschland ein allgemeines Gefühl, einer Krise entgegenzugehen, ja, schon mitten in der Krise zu stecken, das Gefühl, alles Gewordene, Gewohnte zerfalle: Das ist ja keine Chimäre, sondern die Realität der Menschen. Gerade in Ostdeutschland fühlen sich viele heimatlos und entwurzelt, entwertet mit der Konfrontation mit den Wessis. Im Grund kann es jeder an sich selbst beobachten. Im Westen hat die Heimatlosigkeit andere Formen als im Osten. Aber alle verbindet die Empfindung, dass nichts mehr selbstverständlich ist. Quelle: „Tugend“ von Reimer Gronemeyer

Von Hans Klumbies

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