Rebekka Reinhards moralischer Relativismus

Für Rebekka Reinhard scheint grundsätzlich jedes Opfer, das einen freien Willen besitzt, die Wahl zu haben, wie es mit seinem Los umgehen möchte. In der modernen Gesellschaft sind die häufigsten Methoden die Selbstanklage, die Selbstbemitleidung und die Bemitleidung durch Dritte. Rebekka Reinhard gibt folgende Definition eines Opfers: „Opfer zu sein heißt, für etwas Böses verurteilt worden zu sein, das man gar nicht begangen hat und aufgrund dessen unschuldig – und damit auch irgendwie gut zu sein.“ Wer in die Opferrolle gedrängt wird, muss in der Regel schwer dafür büßen. Beispielsweise mit dem Aufenthalt in einer Klinik, dem Verlust des Vermögens, der Schädigung des Rufs oder dem Verlust des Jobs.

Die Todsünden haben sich in Krankheiten verwandelt

Da sich ein Opfer meistens in einem Zustand der völligen Hilflosigkeit befindet, tun die Menschen im Zweifelsfall alles, um nicht Opfer zu werden. Rebekka Reinhard wendet allerdings ein: „Aber: Nur der könnte vermeiden, Opfer zu werden, der nie dem Bösen begegnete.“ Dies scheint allerdings ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Deshalb gibt es unendlich viele Opfer und kaum einen Täter.

Wenn die Menschen in der heutigen Zeit vom Bösen oder Sündhaften sprechen, dann nehmen sie meisten Bezug auf eine schwere seelische Störung. Was früher die so genannten Todsünden waren, sind in der Gegenwart Krankheiten und Inkompetenzen aller Art. In einigen Fällen wurden sie sogar in Tugenden verwandelt. Der Zorn allerdings ist immer noch mit einem negativen Habitus behaftet. Rebekka Reinhard schreibt: „Neigt ein Erwachsener zum Zornigwerden, muss man davon ausgehen, dass er Probleme hat, sich in die Leistungsgesellschaft einzugliedern.“

In den Industrieländern gibt es immer mehr depressive Menschen

Früher gehörte auch die Trägheit zu den sieben Todsünden. Heute spricht man von der Interesselosigkeit als einem der Hautpsymptome der Depression. Der Psychiater bezeichnet Trägheit als Antriebslosigkeit, ein weiteres typisches Merkmal eines depressiven Menschen. In den Industrieländern gilt die Depression als häufigste seelische Erkrankung überhaupt.

Rebekka Reinhard erklärt dieses Phänomen: „Die Depression ist das Symptom einer Gesellschaft, die ihren Mitgliedern ein Übermaß an Eigeninitiative und Leistung abverlangt und ihnen gleichzeitig suggeriert, der Sinn des Lebens bestünde im Spaßhaben.“ Auch der Hochmut hat im Laufe seiner Geschichte eine Wandlung durchgemacht. Zählte auch er früher zu den Sünden, kann heute übersteigerter Hochmut sogar im Blitzlichtgewitter enden und nicht mehr zwangsläufig in der Psychiatrie.

Die Moral darf nicht dem Zufall überlassen werden

Paris Hilton ist das beste Beispiel für einen Menschen, der seine Eitelkeit mit großem Erfolg als Tugend verkauft. Aber natürlich ist Paris Hilton laut Rebekka Reinhard nur deshalb so erfolgreich, weil sie einer Gesellschaft dient, die vom Ich besessen ist. Das Böse und Sündhafte ist den Menschen von heute fremd geworden. Das Böse scheint nur noch in grauer Vorzeit zu existieren. Die meisten Menschen können nichts mehr damit anfangen. Sie sagen: „Alles ist relativ.“

Rebekka Reinhard schreibt: „Dieser moralische Relativismus ist nur ein Auswuchs der allgemeinen Beliebigkeit im Leben des modernen Menschen. Wer sich nicht festlegt, scheint gerettet. Wer keine definitiven Entscheidungen trifft, kann sich nicht irren.“ Wer allerdings so denkt, überlässt am Ende die Moral dem Zufall.

Von Hans Klumbies