Vielschichtige Trauer verbindet und trennt

Die „Unfähigkeit zu trauern“ ist „den Deutschen“ nach 1945 immer wieder vorgeworfen worden. Für Michael Wolffsohn sind das kollektive und deshalb wertlose Schablonen. Auf der politisch-geschichtlichen Ebene gilt seine Sympathie jenen, die gegen Adolf Hitler Krieg geführt haben und dabei Deutsche, viele, sehr viele unschuldige Deutsche töten mussten. Subjektiv haben auch die unschuldigen Deutschen gelitten, sie wurden geschunden, missbraucht und getötet. Objektiv haben diese Unschuldigen ein verbrecherisches Regime gestützt, das nicht zuletzt die Familie von Michael Wolffsohn und seine jüdischen Glaubensgenossen verfolgte, vernichtete und vergaste. Diese vielschichtige Trauer über die Vergangenheit verbindet Michael Wolffsohn mit den Deutschen, und sie trennt sie zugleich. Prof. Dr. Michael Wolffsohn war von 1981 bis 2012 Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München.

Tränen über die Toten reichen nicht aus

Die Aufgabe der Gegenwart und Zukunft verbindet aber die Deutschen und die Juden. Sie lautet: Sie bauen gemeinsam eine demokratische und menschliche Bundesrepublik Deutschland in Europa. Michael Wolffsohn fragt ketzerisch: „Ist es so einfach über die Toten zu trauern? Je länger sie tot sind, desto leichter die Trauer. Ja aber auch die Lehren der Todesursache, also auf die Lehren der Geschichte kommt es an, werden ihm manche entgegenhalten.

Richtig. Die Lehre heißt: Das Leben der Lebenden muss man schützen, Tränen über die Toten reichen nicht aus. Die Funktion der Trauer ist, das Leben zu sichern. Das bedeutet für Michael Wolffsohn politisch: „Nie wieder Aggression und Völkermord hinnehmen, nie wieder Appeasement, also Beschwichtigung, gegenüber Aggressoren und Völkermördern.“ Haben die Menschen in Deutschland, in Europa, in der Welt diese Lehren wirklich gezogen. Michael Wolffsohn antwortet darauf mit einem klaren Nein.

Die Völker der Welt müssen Völkermorde verhindern

Fernsehend haben das deutsche Volk und andere Völker in den letzten Jahren weggesehen, wie beispielsweise in Bosnien Aggression und Völkermord zu lange belohnt wurde. Trotzdem hatten viele ein gutes Gewissen. Recht besehen war es gewissenlos. Denn wie kann man ein gutes Gewissen behalten, wenn man vom Völkermord in Bosnien, Ruanda, Burundi, Sudan oder Tschetschenien fernsehend wegsieht und untätig bleibt? Wie kann man das Wegsehen der fersehlosen Eltern und Großeltern im Dritten Reich anprangern wenn man selbst fernsehend wegsieht und untätig bleibt?

Man entlastet das schlechte Gewissen durch Ersatzhandlungen. Man organsiert wegen der Meeresverschmutzung durch eine Bohrinsel den Boykott von Tankstellen und wegen der französischen Atomversuche den Boykott von Champagner. Empörung über Meeresverseuchung und Atomversuche? Ja. Aber bitte keine Empörung ohne Gewichtung. Am Volkstrauertag sagt Michael Wolffsohn nicht nur den Deutschen: „Ihr Völker der Welt, schaut auf die Völkermorde und verhindert sie. Bevor ihr Tankstellen und Champagner boykottiert, rettet bedrohte Menschen. Quelle: „Tacheles“ von Michael Wolffsohn

Von Hans Klumbies