Der Krieg in der Ukraine ist ein Vorbote künftiger Krisen

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird klar, dass der von 1947 bis 1989 andauernde „Kalte Krieg“ wie ein gigantisches Kühlhaus wirkte, das viele der politischen Leidenschaften, die vorher in Europas Bevölkerungen vorherrschten, tiefgefroren hat. Micha Brumlik ergänzt: „Seit 1989 herrscht Tauwetter, in dem Nationalismen wie Zombies wiederauferstehen. Jeder Blick in die Medien bestätigt die Aktualität dessen, was abwertend als „Nationalismus“ und wohlwollend als „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ bezeichnet wird.“ Davon zeugen nicht nur die Euroskeptiker in den politischen Parteien, sondern vor allem die Unabhängigkeitsbewegungen der Katalanen, der Schotten, der Flamen sowie der Basken. Vor allem aber der Krieg in der Ukraine macht dies mehr als deutlich. Micha Brumlik ist emeritierter Professor für Erziehungswissenschaften in Frankfurt am Main sowie Publizist.

Patrioten wollten bei der Idee der Nation Herkunft und Freiheit vereinen

Dabei ist das Wiedererstarken des Nationalismus keine neue Erscheinung: Schon der Zerfall Jugoslawiens, aber auch die Spaltung der Tschechoslowakei deuten darauf hin, dass die Magie der Nation nichts von ihrem Zauber verloren hat und die politischen Leidenschaften stärker beflügelt als jede andere Idee. Aber was ist eine „Nation“ beziehungsweise ein „Volk“ eigentlich. Micha Brumlik erklärt: „Die neuere Geschichte kennt zwei idealtypische, in der Realität meist verfließende Formen: die romantische und die aufklärerische Idee.“

Während die romantische Idee die Nation als eine durch Kultur, Sprache und Abstammung geprägte Herkunftsgemeinschaft definiert, versteht die aufklärerische Tradition sie als eine auf Individual- und demokratischen Rechten beruhende Zukunftsgemeinschaft. Oft genug freilich waren laut Micha Brumlik deutsche Patrioten bestrebt, beides – Herkunft und Freiheit – zu vereinen. Als Beispiel nennt der Publizist den Philosophen Johann Gottlieb Fichte, der in seinen „Reden an die deutsche Nation“ zwar ein deutsches Wesen beschwor und doch den Begriff der Freiheit aufrief.

Immanuel Kant experimentierte mit der Idee eines Weltbürgertums

Das von dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson nach dem Ersten Weltkrieg postulierte „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ transportierte die systematische Doppeldeutigkeit von „Volk“ in den Bereich des internationalen Rechts, wo es schließlich im 1977 ratifizierten „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ seinen Platz gefunden hat. Micha Brumlik fügt hinzu: „Vor diesem Hintergrund erscheint der Krieg in der Ukraine nicht nur als Ausdruck eines der letzten Nationenbildungsprozesse in Europa, sondern auch ein Menetekel künftiger Krisen.“

Die Form und der Ausgang der Abstimmung in Schottland über die Abspaltung von Großbritannien geben Micha Brumlik immerhin Anlass zu der Hoffnung, dass nationalistische Leidenschaften zivilisierbar sind. Außerdem stellt er 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg fest, dass in Europa zwar das Zeitalter der klassischen Nationalstaaten, nicht aber des Nationalismus überwunden ist. Es war der große deutsche Philosoph Immanuel Kant, der in seinen Gedanken „zum ewigen Frieden“ mit der Idee eines Weltbürgertums experimentierte. Dabei ging es ihm sicherlich nicht um ein kategorisches Recht auf Einwanderung, wohl aber um das Recht, aus einer Notlage gerettet zu werden. Quelle: taz.die tageszeitung

Von Hans Klumbies