Zertifikate im Bereich der Nachhaltigkeit sind eigentlich irrelevant

Mathias Binswanger kritisiert an der Nachhaltigkeit, dass es zwar immer mehr Zertifikate und Labels gibt, aber kein nachhaltiges Wirtschaften. Die Zertifizierung und Verlabelung von Unternehmen und Produkten ist inzwischen zu einem eigenen Business geworden, mit denen eine Vielzahl privater und staatlicher Unternehmen und Büros beschäftigt sind. Mathias Binswanger fügt hinzu: „Man glaubt, dadurch die Spreu vom Weizen trennen zu können und die Nachhaltigkeit der Wirtschaft zu fördern. Und so gibt es inzwischen eine Unmenge an Labels und Zertifikaten, deren Bedeutung praktisch niemand mehr durchschaut.“ Das ist allerdings eher von geringfügiger Bedeutung, da innerhalb kurzer Zeit sowieso alle wichtigen Unternehmen im Besitz dieses Qualitätsbescheinigungen sind. Fast alle Produkte werden dann mit einem grünen Punkt oder Blauen Engel verkauft, und es gibt nur noch Weizen, aber keine Spreu mehr. Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Solothurn.  

Die Illusion der Messbarkeit hat auch die Nachhaltigkeit voll erfasst

Das Problem mit Labels und Zertifikaten ist für Mathias Binswanger genau dasselbe wie in anderen Bereichen, in denen Wettbewerbe ohne Markt inszeniert werden. Das letztlich komplexe, qualitativ orientierte und nur vage definierbare Kriterium der Nachhaltigkeit wird seiner Meinung nach auf einige messbare Indikatoren reduziert, aufgrund derer die Labels vergeben werden. Mathias Binswanger ergänzt: „Die Messbarkeitsillusion hat die mit der Durchsetzung von nachhaltiger Entwicklung beauftragten oder selbst ernannten Institutionen und Organisationen schon seit einiger Zeit voll erfasst.“

Je nachdem, was man gerade misst, sind dann allerdings ganz andere Produkte oder Unternehmen nachhaltig. Nachhaltigkeit kann man beispielsweise an bestimmten Ausschlusskriterien festmachen. Es dürfen nur keine Waffen oder Drogen produziert werden und schon erhält ein Unternehmen ein Unbedenklichkeitszertifikat. Es ist dann egal, ob die Angestellten schlecht bezahlt werden oder ob die Herstellung der Produkte mit Umweltschäden verbunden ist, denn diese Faktoren sind für die so gemessene Nachhaltigkeit ohne Bedeutung.

Im Dschungel der Zertifikate kann sich ein Verbraucher kaum zurechtfinden

Genauso gut könnten die Prüfer aber auch umgekehrt vorgehen. Sie achten dann zum Beispiel auf den CO2-Output und darauf, ob die Beschäftigten anständig bezahlt werden, wobei es dann egal ist, was eine Firma produziert. Im zweiten Fall hat Nachhaltigkeit eine ganz andere Bedeutung als im ersten, da sie völlig anders gemessen wird. Auf die Frage, welche Messung die richtige ist, gibt es laut Mathias Binswanger keine Antwort. Jeder Mensch muss sich selbst entscheiden, was ihm wichtiger ist beziehungsweise welches Label für ein Unternehmen günstige Kriterien verwendet, so dass es dann nachhaltig erscheint.

Zertifikate und Labels erweisen sich im Bereich der Nachhaltigkeit im Endeffekt als weitgehend irrelevant. Mathias Binswanger nennt einen Grund: „Die erwünschte Herstellung von Transparenz schafft eine neue Unübersichtlichkeit auf höherer Ebene. Sich in dem neuen Dschungel von Zertifikaten und Labels zurechtzufinden, wird zur Sisyphusarbeit, da man die Relevanz der einzelnen Bescheinigungen kaum unterscheiden und geschweige denn überprüfen kann.“ Es kann dann leicht sein, dass wesentlichen Mitteilungen in der neu geschaffenen Informationsflut einfach untergehen.

Von Hans Klumbies