Eine der Hauptthesen des Buchs „Ich ist nicht Gehirn“ von Markus Gabriel lautet, dass die bisher nur angerissenen Vorgänge, die Selbsterkenntnis an neugeschaffene naturwissenschaftliche Disziplinen zu delegieren, ideologisch und damit irregeleitete Phantasien sind. Was Markus Gabriel hier als Ideologie kritisiert, ist in diesem Fall ein System von Vorstellungen und Wissensansprüchen im Bereich der Selbsterkenntnis, das Produkte geistiger Freiheit als natürliche, biologische Vorgänge missversteht. Markus Gabriel schreibt: „Es ist so gesehen kein Wunder, dass diese gegenwärtige Ideologie insbesondere auch darum bemüht ist, den Begriff der menschlichen Freiheit zu verabschieden. Es soll am besten gar keine Produkte geistiger Freiheit geben.“ Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.
Das Bewusstsein entsteht durch Kommunikation
Markus Gabriel verteidigt die These, dass die Suche nach dem Selbst, das Projekt der Selbsterkenntnis, völlig schiefgeht, wenn man denkt, man sei sein Gehirn. Ohne gesundes Gehirn wäre ein Mensch freilich nicht da, er könnte nicht denken, wach sein oder bewusst leben. Daraus folgt aber nicht, dass ein Mensch mit seinem Gehirn identisch ist. Ein Grund dafür ist, dass man erstens einen Körper hat, der nicht nur aus Neuronen besteht, sondern noch viele weitere Organe aufweist, die aus anderen Zellarten bestehen.
Zudem wär ein Mensch keineswegs auch nur annähernd derjenige, der er ist, wenn er nicht in sozialer Interaktion mit anderen Personen stünde. Er hätte keine Sprache und wäre wohl kaum überlebensfähig, da ein Mensch alles andere als ein geborener Solipsist ist, der ein Bewusstsein haben kann, ohne jemals mit anderen kommuniziert zu haben. Diese kulturellen Tatsachen kann man nicht dadurch erklären, dass man sich ein Gehirn ansieht. Man muss mindestens eine Vielzahl von Gehirnen, die sich in vollständigen Organismen befinden, in Betracht ziehen.
René Descartes frägt nach dem Verhältnis von Geist und Gehirn
In der Philosophie des Geistes geht es seit etwas mehr als einhundert Jahren zentral auch um das Verhältnis von Geist und Gehirn, eine Fragestellung, die in der frühen Neuzeit insbesondere durch René Descartes (1596 – 1650) zugespitzt wurde. Damit greift die neuere Philosophie des Geistes eine uralte, schon im antiken Griechenland formulierte Frage in modernem Gewand auf, nämlich, wie sich der Leib im Allgemeinen zum Geist oder zur Seele verhält. Deswegen spricht man auch vom Leib-Seele-Problem.
Das „Gehirn-Geist-Problem“ ist eine Variante dieses umfassenderen Fragenkomplexes. Markus Gabriel erläutert: „Die allgemeinste Formulierung des Problems lautet: wie kann es überhaupt bewusstes subjektives geistiges Erleben in einem unbewussten, kalten, rein objektiv sich nach Naturgesetzen entwickelnden Universum geben?“ Das hat der prominente australische Bewusstseinsphilosoph David Chalmers das harte Problem des Bewusstseins genannt. Anderes angewendet: Wie passt die scheinbar provinzielle menschliche Perspektive auf das Universum in dieses alle Vorstellungskraft übersteigende Universum? Quelle: „Ich ist nicht Gehirn“ von Markus Gabriel
Von Hans Klumbies