Das Herz gilt als Metapher des Begehrens

Die zweite Zeile von Friedrich Nietzsches „Mitternachtslied“ lautet: „Was spricht die tiefe Mitternacht?“ Der Mensch in all seiner Vielgestaltigkeit und Unbestimmtheit ist nicht nur der einfache Adressat dieses Anrufs, er ist auch in diesem „Was“ unbedingt angesprochen. Konrad Paul Liessmann erläutert: „Die Stimme der Mitternacht verspricht Auskunft über die existenzielle Befindlichkeit, über die individuellen Nöte des Menschen. Denn diese Mitternachtsglocke hat, wie Zarathustra seinen Gefährten erläutert, die „Herzens-Schmerzens-Schläge“ im Hintergrund.“ Der Herzschlag synchronisiert sich mit dem Glockenschlag. Und beide verdichten sich zu einem Schmerz, der sich weniger auf ein organisches Leiden als vielmehr auf eine fundamentale Grundbefindlichkeit des Menschen bezieht. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien. Zudem arbeitet er als Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Im Zsolnay-Verlag gibt er die Reihe „Philosophicum Lech“ heraus.

Die Nacht ist der Zustand der Verborgenheit

In dieser Grundbefindlichkeit des Menschen bindet sich das Herz als Metapher des Begehrens an dem aus diesem Begehren erwachsenden Schmerz. Die moderne Formulierung dieser Konstellation findet sich aktuell in der Frage: „Warum tut Liebe weh?“ Konrad Paul Liessmann stellt nebenbei fest: „Man kann Herz auf Schmerz schon lange nicht mehr reimen, aber Nietzsche kann sich die „Herzens-Schmerzen-Schläge“ durchaus noch erlauben. Es sind die Schläge, die den Binnenreim vor der Trivialität bewahren, indem sie diesen empfindlich treffen.“

Nicht nur die Liebe, auch die sprachliche Nähe von Herz und Schmerz tut weh. Die Mitternachtsglocke präludiert die Doppeldeutigkeit von Herz und Schmerz, von Lust und Weh, die das Gedicht thematisch zentral durchzieht. Allerdings: Diese Schläge, auf die der Mensch jetzt Acht geben soll, diese Worte der Mitternacht sind heimlich. Das heißt, sie verbergen sich, die Nacht ist der Zustand der Verborgenheit, sie ist schrecklich. Sie ist die Zeit der aufsteigenden Ängste, doch sie offenbart das Innerste: das Herz eines Menschen.

Es gibt eine Nacht im eigenen Selbst

Das, was man vernimmt, ist eine innere Stimme. Es gibt eine Nacht im eigenen Selbst. Doch vorerst spricht die Mitternacht zu den Menschen. Was bedeutet dies? Konrad Paul Liessmann kennt die Antwort: „Es handelt sich hier wohl kaum um eine zufällige Allegorie oder harmlose Personifizierung einer Zeitbestimmung.“ Friedrich Nietzsche schreibt sich damit in eine reiche und vielfältige Tradition ein. „Mitternacht“ ist einer der hochkonnotierten und bedeutungsschwangeren Begriffe in der europäischen Kultur.

Dieser mutierte spätestens seit der Romantik auch zu einer zentralen ästhetischen Konzeption. Friedrich Nietzsches „Mitternachtslied“ gab diesem eine folgenreiche Ausdeutung. Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen hat ihrer Kulturgeschichte der Nacht deshalb einen Vers dieses Liedes als Titel gegeben: „Tiefer als der Tag gedacht“. Die Nacht ist ein starkes Bild für den Verlust jener Bewusstseinsfunktionen, die einem Menschen Rationalität, Logik und Zurechnungsfähigkeit versprechen. Quelle: „Alle Lust will Ewigkeit“ von Konrad Paul Liessmann

Von Hans Klumbies