Was die Moderne von anderen Epochen unterscheidet, ist zunächst ihre Ideologie. Alexander Grau erklärt: „Die Moderne ist die erste Epoche, die sich permanent selbst überwinden will. Paradoxerweise ist gerade deshalb die Moderne, die erste Epoche, die sich radikal selbst will.“ Die Antike wollte nicht antik sein, das Mittelalter nicht mittelalterlich, die Moderne aber will modern sein. Und modern sein bedeutet, fortschrittlich zu sein. Fortschritt bedeutet aber Zerstörung des Vorhandenen und Überlieferten. Exponent dieser Zerschlagung des Vorhandenen und Überlieferten ist das Bürgertum, die Bourgeoisie. Im Kommunistischen Manifest heißt es: „Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen ist, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört.“ Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist.
Das Bürgertum sagt dem Adel den Kampf an
Das Bürgertum ist der soziale Träger der Ideologie des Fortschritts. Ganz einfach deshalb, weil seine gesellschaftliche Reputation auf überlieferten Privilegien beruht, sondern auf wirtschaftlichem Erfolg. Und der ist unter den Bedingungen der Industrialisierung eben abhängig von technischen Errungenschaften und wissenschaftlichen Entwicklungen. Erst diese rechtfertigen die soziale Modernisierung, forcieren sie und damit zugleich die gesellschaftliche und politische Teilhabe des Bürgertums.
Das war selbstredend eine Kampfansage an den Adel, der seine Stellung und seine Macht aus der Tradition bezog, aus der Vergangenheit, aus der Genealogie. Doch für das bürgerliche Bewusstsein und seinen Machtanspruch sind genealogische Argumente wertlos. Im Rahmen der bürgerlichen Ideologie zählt nur das Individuum, sein Selbstentwurf, sein Erfindergeist, seine Innovationskraft. Der Legitimation durch Herkunft setzt der Bürger die Rechtfertigung durch individuelle Leistung entgegen. Der Wert eines Individuums, ja der Sinn des Lebens ermisst sich ausschließlich daran, was der Einzelne aus seinem Leben macht.
Die Selbstverwirklichung wird zum Massenphänomen
Alexander Grau erläutert: „Deshalb wohnt der bürgerlichen Ideologie notwendig eine enorme Destruktivität inne. Denn alles, was ist, was überliefert wurde, ist für das sich frei entfaltende Subjekt ein potentielles Hindernis auf dem Weg zur Selbstfindung.“ Deshalb ist dieses Konzept der Selbstfindung zugleich die letzte Sinnressource, di dem von allen Banden, Überlieferungen und Rollen befreiten bürgerlichen Subjekt faktisch bleibt. Hinzu kommt, dass Fragen der persönlichen Lebensgestaltung zu einem Massenphänomen werden.
Doch welches Selbst soll sich das nach Selbstverwirklichung sehnende Selbst verwirklichen? Für welche der vielen Lebensoptionen soll es sich entscheiden? Für welchen Job, für welchen Partner, welchen Trendsport, für welches Geschlecht? So gerät das nach sich selbst suchende Selbst in Selbstfindungsstress. So entsteht das, was der Soziologe Ulrich Beck die postreligiöse Theologisierung des Alltags genannt hat. „Die Entscheidungen der Lebensführung werden >vergottet<. Fragen, die mit Gott untergegangen sind, tauchen nun im Zentrum des Lebens neu wieder auf.“ Quelle: „Wo wir sind, ist vorne“ von Alexander Grau im Philosophicum Lech Band 23
Von Hans Klumbies