Albert Einstein ändert die Spielregeln der Physik

Carlo Rovelli glaubt, dass alle naturwissenschaftlichen Theorien auf der großen und verflochtenen Komplexität der Weltsicht der Menschen basieren. Und jede gute Theorie stellt seines Erachtens eine neue Erkenntnis und ein dynamisches Element in der Entwicklung eben dieser Weltsicht dar. In großen wissenschaftlichen Revolutionen verändert sich nicht das, was vernünftigerweise zu erwarten gewesen wäre, sondern vielmehr das, was niemand erwartet hätte. Ein gutes Beispiel ist Albert Einstein, das moderne Symbol für konzeptuelle Erneuerung und wissenschaftlichen Revolution. Als er 1905 seine Spezielle Relativitätstheorie entwickelte, geschah die in Antwort auf eine Krise. Die von Galileo Galilei und Isaac Newton postulierte Relativität konnte offenbar verschiedene Beobachtungsdaten nicht erklären. Seit dem Jahr 2000 ist Carlo Rovelli Professor für Physik an der Universität Marseille.

Albert Einstein nahm bestehende Theorien sehr ernst

Insbesondere schien sie inkompatibel mit James Clerk Maxwells elektromagnetischer Theorie. Deren Effizienz wurde bei der Beschreibung der Welt von Tag zu Tag deutlicher. Albert Einsteins Revolution bestand nicht darin, alte Theorien zu verwerfen und neue auszuprobieren. Ganz im Gegenteil nahm er bestehende Theorien sehr ernst und verwarf stattdessen eine A-priori-Konzeption der Welt. Etwas, das bis zu diesem Moment überhaupt nicht problematisiert worden war. Albert Einstein spielte kein neues Spiel mit alten Spielregeln; er änderte die Spielregeln.

Carlo Rovelli erklärt: „Die Zeit war nicht länger das, was sie offensichtlich zu sein schien. Sie war nicht das, was Immanuel Kant als A-priori-Bedingung der Erkenntnis betrachtete.“ Der gesunde Menschenverstand wurde auf den Kopf gestellt. Zum Teufel mit dem von den Angelsachsen so hochgeschätzten common sense. Es waren daher nicht direkt Messergebnisse, die den großen konzeptionellen Sprung auslösten, den die Spezielle Relativitätstheorie darstellt. Sondern es war das Vertrauen in die Effizienz früherer Theorien, die sich trotz ihrer offensichtlichen Widersprüchlichkeit empirisch bewährt hatten.

Kopernikus organisierte das Weltsystem neu

Die Spezielle Relativitätstheorie ist kein isoliertes Beispiel. Kopernikus verwarf das theoretische Modell von Ptolemäus nicht, um himmlische Phänomene aufgrund neuer Beobachtungsdaten zu reorganisieren. Ganz im Gegenteil. Dank eines tiefen Eintauchens in die Ptolemäische Astronomie fand er den konzeptionellen Schlüssel, der ihm erlaubte, das Weltsystem neu zu organisieren. Er gibt dabei die scheinbar unbestreitbare Vorgabe – die Erde steht still – auf.

Ähnliche Fälle gibt es wie Sand am Meer. Paul Adrien Maurice Dirac entwickelte die Quantenfeldtheorie. Er sagte die Existenz von Antimaterie einzig und allein aufgrund seines festen Vertrauens in die Spezielle Relativitätstheorie und die Quantenmechanik voraus. Isaac Newton begriff die Existenz einer universellen Schwerkraft aufgrund seines unerschütterlichen Vertrauens in das dritte Gesetz von Johannes Kepler. Und er verließ sich auf Galileo Galileis Erkenntnis, dass die Bewegung von der Beschleunigung bestimmt wird, ganz ohne irgendwelchen neuen Messdaten. Quelle: „Die Geburt der Wissenschaft“ von Carlo Rovelli

Von Hans Klumbies