Längst ist der Mensch des Menschen Wolf

Nahrungsketten bilden die zentralen Abläufe in der Natur. Sie entsprechend den Produktionsketten in der Wirtschaft der Menschen. Das Prinzip ist ebenso einfach wie seit Urzeiten bekannt: Alle Lebewesen werden von anderen genutzt. „Gefressen“, wie man abwertend zu sagen pflegt. Josef H. Reichholf erläutert: „Das „Fressen und Gefressenwerden“ in der Natur missfällt uns, insbesondere, wenn es uns direkt oder indirekt betrifft.“ Direktes Betroffensein ist extrem selten geworden. Denn alle Raubtiere, die dem Menschen gefährlich werden können, sind entweder weithin ausgerottet oder in spezielle Gebiete, meistens Reservate, zurückgedrängt. Längst ist der Mensch des Menschen Wolf, wie schon die Alten wussten. Die Zahl der Menschen, die Raubtieren zum Opfer fallen, liegt weit niedriger als die vom Blitz Erschlagenen. Josef H. Reichholf lehrte an der Technischen Universität München 30 Jahre lang Gewässerökologie und Naturschutz.

Es gibt eine Räuber-Beute-Beziehung

Von tödlichen Unfällen aus bodenlosem Leichtsinn ganz zu schweigen. Diese Abschweifung ist für Josef H. Reichholf berechtigt. Denn tatsächlich ertrinken recht viele Menschen in Flüssen und Seen, brechen durchs Eis oder kommen auch vom Hochwasser mitgerissen ums Leben. In diesem Sinne sind Gewässer gefährlich und das Meer, das bei Weitem größte Gewässer, ganz besonders. Das ist seit Jahrtausenden so. Dennoch schleppen Menschen die uralten Ängste und Vorurteile immer noch mit und drücken sie sogar in ihrer Sprache aus.

Das geschieht auch in der Fachsprache der Naturwissenschaft. Josef H. Reichholf nennt ein Beispiel: „Wir nennen ein Tier, das ein anderes frisst, einen Räuber. Und drücken dies aus als Räuber-Beute-Beziehung. Der Täter wird gar Mörder genannt, wenn es sich bei seiner Beute, dem Opfer, um einen Angehörigen der eigenen Art handelt.“ „Friedlich“ ist nur, wer sich von Gras oder anderen Pflanzen ernährt, obgleich das die betreffende Art nicht davor schützt, als Schädling eingestuft zu werden.

Der Mensch ist die größte Gefahr für alle Tiere

Was insbesondere dann geschieht, wenn sie mit dieser ihrer Nutzung an die Stelle des Menschen rückt und ihm etwas von der „Produktion“ oder der „Beute“ im Sinne des Jägers wegnimmt. In der Räuber-Beute-Beziehung stecken daher Empfindungen und Denkweisen von Menschen längst vergangener Zeiten. Damals lebten Jäger und Sammler mehr oder weniger nomadisch und entwickelte sich zum größten und bedrohlichsten „Räuber“. Zum „Top-Prädator“ im gegenwärtig favorisierten angloamerikanischen Jargon.

Nunmehr ist der Mensch nicht mehr nur der Menschen größter Feind, sondern auch die bei Weitem größte Gefahr für alle Tiere, die sich dieser Bedrohung gewahr werden können. Josef H. Reichholf stellt fest: „Das hat sie scheu gemacht. Denn nur die Scheuesten überleben. Viele blieben auf der Strecke. Sie wurden ausgerottet.“ So viel zur Betrachtung der Nahrungsketten. In ihnen steckt nach wie vor sehr viel von der uralten Voreingenommenheit. Quelle: „Flussnatur“ von Josef H. Reichholf

Von Hans Klumbies